Mehrsprachigkeit

Kategorie Institutsthema

Was bedeutet Mehrsprachigkeit? Welche Herausforderungen können durch die Mehrsprachigkeit entstehen? Auf der Seite sind die wichtigsten Informationen zusammengestellt.

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Britta Massie Titel Prof., Dr. rer. biol. hum.

Funktion

Professorin für Sprachförderung und Sprachdidaktik in heterogenen Lerngruppen (in Stellenteilung)

Ein grosser Teil der Bevölkerung in der Deutschschweiz kommt im Alltag regelmässig mit mehreren Sprachen in Kontakt. Viele Kinder sprechen zu Hause eine andere Sprache als (Schweizer-)Deutsch: Somit ist die Mehrsprachigkeit keine Randerscheinung, sondern gelebte Realität. Ein wesentliches Merkmal von mehrsprachigem Erwerb ist seine Individualität.

Definition. Die Definition von Mehrsprachigkeit ist deshalb weder eindeutig noch einfach zu treffen. Frau Scharff Rethfeldt (2023) formuliert es folgendermassen: «Mehrsprachigkeit ist ein komplexer und dynamischer Prozess, der neben einem Kontinuum von rezeptiven und expressiven Sprachfähigkeiten in den einzelnen Sprachen vorrangig dem Einfluss des sozialen Umfeldes, der Interaktionspartner und dem individuellen Lebensentwurf, sowie der Zeit unterliegt.» (ebd. 2023: 47).

Mehrsprachige Entwicklung. In der Forschung zur Mehrsprachigkeit ist man sich einig, dass Kinder mühelos mehrere Sprachen erwerben können. Die Mehrsprachigkeit führt nicht zu einer Überforderung und ist nicht ursächlich für Sprachentwicklungsstörungen. In der Heilpädagogik wird im mehrsprachigen Erwerb häufig unterschieden zwischen:

  • Simultaner Erwerb: Die verschiedenen Sprachen werden innerhalb der ersten drei Lebensjahre gleichzeitig erworben.
  • Sukzessiver Erwerb: Zunächst wird eine Sprache erworben und ab ca. drei Jahren bis maximal fünf Jahren kommt eine bzw. mehrere Sprachen hinzu.

Je nach Autor:in werden unterschiedliche Alterszeitpunkte zur Differenzierung herangezogen. Ein Konsens besteht jedoch darin, dass sich der individuelle Mehrspracherwerb vom monolingualen Spracherwerb unterscheidet und dass es unterschiedliche Formen individueller Mehrsprachigkeit gibt. 

Grösserer Wortschatzumfang. Mehrsprachigkeit bedeutet nicht, dass die verschiedenen Sprachen auf gleichem Niveau erworben und gesprochen werden wie bei einsprachigen Sprechenden. Ebenso sind der Wortschatzumfang und die Wortschatzqualität in den verschiedenen Sprachen abgespeichert. Gesamthaft gesehen ist der Wortschatzumfang Mehrsprachiger jedoch in der Regel grösser als derjenige von einsprachig aufwachsenden Kindern und Jugendlichen.

Mehrsprachige Kinder haben in der Regel einen grösseren Wortschatz als einsprachig aufgewachsene Kinder.

Diagnostik. Treten in der Sprachentwicklung Schwierigkeiten auf, so können diese einerseits eine normale Entwicklung im Rahmen der Mehrsprachigkeit darstellen. Andererseits kann dahinter aber auch eine Auffälligkeit im Sinne einer Sprachentwicklungsstörung stecken. Die Herausforderung für Fachpersonen im Umgang mit mehrsprachigen Kindern besteht darin, vor dem Hintergrund der Individualität potenzielle Förder- und/oder Therapiebedarfe zu erkennen. Hierfür müssen verschiedene Informationsquellen und Testmethoden eingesetzt werden.

  • Mehrsprachige Kinder dürfen nicht an der einsprachigen Norm gemessen werden. Hierdurch würden mehrsprachige Kinder benachteiligt.
  • Die Sprachkompetenzen in den jeweiligen Sprachen sollten sowohl bei den Bezugspersonen als auch beim Kind selbst abgeholt werden. Dies kann informell durch ein Gespräch oder in standardisierter Form von Elternfragebögen geschehen (z. B. SEB-2-KT, Suchodoletz & Sachse, 2008)
  • Darüber hinaus muss der Sprachstand des Kindes in der Erst- (L1) und der Zweitsprache (L2) oder weiteren Sprachen (L3, L4, usw.) erhoben werden. Dafür können standardisierte Diagnostiken wie z. B. LiSe-DaZ (Schulz et al., 2011), ESGRAF-MK (Motsch, 2011) oder SCREENIKS (Wagner, 2014) verwendet werden.
  • Eine wichtige Methode im diagnostischen Prozess stellt das so genannte Dynamic Assessment dar. Hierbei werden der Testperson gezielt und systematisch Hilfestellungen gegeben, um das zugrundeliegende Potenzial sichtbar zu machen.

Interferenzen. An erster Stelle steht, dass die zuständige Fachperson die Erstsprache (L1) des Kindes kennenlernt und diese wertschätzt. Die Zweitsprache (L2) kann durch Strukturen der Erstsprache (L1) beeinflusst werden. So kann z. B. eine fehlerhafte Satzstellung im Deutschen durch den Einfluss der L1 zustande kommen. Diese Einflüsse werden Interferenzen genannt.

Website. An der HfH wurde, begleitet durch Prof. Wolfgang G. Braun, im Rahmen von zwei Bachelorarbeiten ein virtuell-interkultureller Sprachvergleich erstellt. Dieser stellt in kompakter Weise die markantesten Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den gesprochenen Erstsprachen und Varietäten im deutschsprachigen Raum und dem Hochdeutschen dar. Zur Website «Interferenzen» (via ILIAS)

Das Konzept SPRINT fokussiert kommunikative Kompetenzen von mehrsprachigen Kindergartenkindern.

Sprachförderung. Je nach Erkenntnis aus der Diagnostik, wird der Förder- respektive Therapiebedarf für jedes Kind individuell ausgearbeitet. Dabei steht die grösstmögliche Teilhabe am sozialen Leben, der Kultur und der Bildung im Mittelpunkt. Evidenzbasierte Sprachförderung geschieht, im Gegensatz zur Logopädietherapie, alltagsintegriert und in der Regel in Kindergruppen und/oder Schulklassen statt. An der HfH wurde ein Konzept entwickelt und erprobt, welches vor allem mehrsprachige Kindergartenkinder darin unterstützt, ihre kommunikativen Kompetenzen zu erweitern. Erfahren Sie mehr zu SPRINT

In der Therapie-Lehr-Praxis an der HfH werden Kinder sowie Jugendliche behandelt.

Sprachtherapie. In der Sprachtherapie werden Kinder im Einzelsetting oder in Kleingruppen individuell und symptomspezifisch therapiert. Zum Einsatz kommen evidenzbasierte Therapiemethoden, wie z. B. das Modellieren, die Inputspezifizierung oder die Kontrastoptimierung. Bei mehrsprachigen Kindern findet die logopädische Therapie entweder in allen Sprachen statt oder lediglich in der Umgebungssprache. An der HfH steht dafür die Therapie-Lehr-Praxis (TLP) zur Verfügung. Es handelt sich um eine vom Kanton Zürich anerkannte Logopädie-Therapiestelle, die Kinder sowie Jugendliche behandelt.

Im Schriftspracherwerb können Kinder von ihrer Erstsprache (L1) profitieren.

Mehrsprachiger Schriftspracherwerb. Kinder, die die Umgebungssprache als Zweitsprache (L2) erwerben, haben mitunter ungünstige Voraussetzungen für den Erwerb der Schriftsprache. Sie müssen das Schriftsystem auf ihrer vermeintlich schwächeren Sprache aufbauen. Mehrsprachige Kinder profitieren von einer Förderung respektive Therapie in den für die Schriftsprache essenziellen Bereichen wie:

  • der Artikulation und phonologischen Bewusstheit
  • der Grammatik und morphologischen Bewusstheit
  • der Literalen Praxis und Handlungsorientierung
  • der Kontrastiven Alphabetisierung (vgl. Becker und Peschel, 2015).

Für Fachpersonen ist es umso wichtiger, die Leistungseinschätzungen von mehrsprachigen Kindern besonders differenziert vorzunehmen und ihre Förderung sowie Therapie an der individuellen Symptomatik auszurichten. Auch im Schriftspracherwerb können Kinder von ihrer Erstsprache (L1) profitieren. Wenn ein Kind ausreichend Interesse und Ressourcen zeigt, so sollte es das Lesen und Schreiben immer auch in der Erstsprache lernen.

Heimatliche Sprache und Kultur (HSK). Schülerinnen und Schüler, deren Erstsprache nicht Deutsch ist, können spezielle Kurse besuchen. In diesen vertiefen sie die Kenntnisse in ihrer Erstsprache. Weitere Informationen stellt beispielsweise das Volksschulamt des Kantons Zürich zur Verfügung. Zur Website

Mundart. Die Mundart unterscheidet sich in verschiedenen Bereichen ebenfalls stark von der Hochsprache. Kinder, die in ihrer Mundart stark verwurzelt sind und nur wenig Übung in der Hochsprache zeigen, können zum Teil ähnliche Schwierigkeiten wie mehrsprachige Kinder entwickeln. Auch hier gilt es, diesen Mehrwert der so genannten Diglossie anzuerkennen und individuell auf die Kinder einzugehen. Es existieren diverse Methoden und Programme, die die Mundart und die Hochsprache gegenüberstellen.

Literaturhinweis

  • Becker & Peschel (2015). Schriftspracherwerb unter Bedingungen der Inklusion und zweitsprachlichen Lernens. In: Wenn Schüler mit besonderen Bedürfnissen Fremdsprachen lernen. (Hrsg.) Michalak & Rybarczyk. Weinheim, S. 42-63.
  • Chilla, Rothweiler & Babur (2022). Kindliche Mehrsprachigkeit: Grundlagen – Störungen – Diagnostik (3., vollst. überarbeitete Aufl.). Ernst Reinhardt Verlag: München.
  • Scharff Rethfeldt (2023). Kindliche Mehrsprachigkeit. Grundlagen und Praxis der sprachtherapeutischen Intervention. (2., vollst. äberarbeitete Aufl.). Thieme: Stuttgart.