Fragen und Antworten zur Inklusion
Inklusion
Die FAQ zur schulischen Inklusion geben Antwort auf die wichtigsten Fragen, welche derzeit im Hinblick auf die Realisierung einer Bildung für alle gestellt werden. Die HfH gibt evidenzbasiert Auskunft über den aktuellen Stand des Wissens zur Wirkung von inklusiven und separativen Schulmodellen.

Was ist die Grundidee der schulischen Inklusion?
Die schulische Inklusion strebt danach, dass alle Kinder, unabhängig von ihren Fähigkeiten oder Behinderungen, möglichst an ihrem Wohnort am gleichen Ort zur Schule gehen. Diese Praxis soll das Verständnis und die Akzeptanz von Vielfalt fördern. Das Ziel ist es, eine inklusive Gesellschaft zu unterstützen, in der alle Menschen teilhaben können. Diese Vorgehensweise erfordert jedoch eine sorgfältige Planung und ausreichende Ressourcen, um den Bedürfnissen aller Schülerinnen und Schüler gerecht zu werden.
Was unterscheidet Integration und Inklusion?
Integration soll Ausgrenzungen von Kindern rückgängig machen. Inklusion hingegen lässt diese gar nicht erst zu. Wir verwenden federführend den Begriff der Inklusion, weil die Schweiz im Jahr 2014 die Behindertenrechtskonvention (BRK) ratifiziert hat. Darin hat die Schweiz sich verpflichtet, Hindernisse zu beheben, mit denen Menschen mit Behinderungen konfrontiert sind, sie gegen Diskriminierungen zu schützen und ihre Inklusion und ihre Gleichstellung in der Gesellschaft zu fördern. Diese Ausrichtung soll sich auch auf der sprachlichen Ebene manifestieren.
Bedeutet das, dass zwingend alle Kinder miteinander zur Schule gehen müssen?
Nein. Es gilt die Leitlinie «Inklusion vor Separation»: Wenn immer möglich sollen die Kinder inklusiv unterrichtet werden. Wenn aber die Bedürfnisse eines Kindes in der Regelschule nicht ausreichend berücksichtigt werden können, können separative Schul- und Unterrichtsformen eine legitime Alternative sein. Aktuell werden rund 3% der Kinder in der Schweiz separativ unterrichtet.
Quelle: Bundesamt für Statistik (2025): Statistik der Sonderpädagogik.
Was sagt die Wissenschaft zur Frage der Inklusion?
Inklusion oder Separation – das ist keine Frage, welche die Wissenschaft beantworten kann. Es ist eine politische Entscheidung. Forschungsbefunde sind Teil der Entscheidungsgrundlagen, aber auch gesellschaftliche und wirtschaftliche Argumente. Die Wissenschaft liefert der Politik Daten, Wahrscheinlichkeiten und Szenarien, sollte jedoch neutral bleiben und keine eigene Position einnehmen, um ihre Glaubwürdigkeit in der Öffentlichkeit zu wahren.
Wie wirkt sich die Inklusion auf Kinder mit besonderem Förderbedarf aus?
Mehrheitlich positiv. So machen sie beispielsweise im inklusiven Unterricht gleich viele oder sogar mehr schulische Fortschritte als in separativen Formen und haben bessere berufliche Perspektiven. Kinder mit herausforderndem Verhalten können zudem von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern angemessene soziale Verhaltensweisen lernen. Allerdings gilt umgekehrt, dass Kinder mit Lern- und Verhaltensprobleme von ihren Mitschülern eher schlecht akzeptiert werden.
Quellen:
- Bless, G. (2017). Integrationsforschung. Entwurf einer Wissenskarte. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, 68(5), 216-227.
- Eckhart, M., Haeberlin, U., Sahli Lozano, C. & Blanc, P. (2011). Langzeitwirkungen der schulischen Integration. Eine empirische Studie zur Bedeutung von Integrationserfahrungen in der Schulzeit für die soziale und berufliche Situation im jungen Erwachsenenalter. Bern: Haupt.
- Ellinger, S., & Stein, R. (2012). Effekte inklusiver Beschulung: Forschungsstand im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. Empirische Sonderpädagogik, 4(2), 85-109.
- Hövel, D.C., Schellenberg, C., Link, P.C. & Gasser-Haas, O. (Hrsg.) (2024). Sozio-emotionales Lernen: Pädagogik sozio-emotionaler Entwicklungsförderung. Edition SZH/CSPS 41.
Leidet darunter der Lernerfolg der anderen Kinder?
Grundsätzlich haben die anderen Kinder keine Nachteile. Es gibt aber zwei Bedingungen: Erstens müssen die Ressourcen und die Unterrichtsqualität ausreichend sein. Zweitens gibt es eine Grenze der Tragfähigkeit. Wenn es in einer Klasse mehr als 15–20% Kinder mit besonderem Förderbedarf hat, ist die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die anderen Kinder darunter leiden. Allerdings hängt es von verschiedenen Einflussfaktoren ab, wann diese Grenze überschritten wird. Das umfasst etwa die Ressourcen, das heilpädagogische Know-how im System, den Schweregrad des besonderen Förderbedarfs oder die Verfügbarkeit von Massnahmen zum sozial-emotionalen Lernen.
Quelle: Balestra, S., Eugster, B. & Liebert, H. (2022). Peers with special needs: Effects and policies. Review of Economics and Statistics, 104(3), 602-618.
Stimmt der Eindruck, dass es immer mehr Kinder mit besonderem Förderbedarf gibt?
Diese Vermutung bezieht sich vor allem auf Kinder mit Verhaltensproblemen. Die Daten der letzten Jahrzehnte widerlegen die These. Demnach sind die Zahlen konstant. Allerdings haben jüngst bei den Abklärungsstellen die Verdachtsfälle von ADHS und Autismus-Spektrum-Störungen deutlich zugenommen. Es braucht deshalb unbedingt mehr empirische Befunde zu dieser Frage.
Quellen:
- Barkmann, C. & Schulte-Markwort. M. (2012). Prevalence of emotional and behavioural disorders in German children and adolescents: a meta-analysis. Journal of Epidemiology and Community Health, 66(3), 194-203.
- Jenni, O. (2024). Entwicklungsstörungen verstehen. Heidelberg: Springer.
Wie stehen die Lehrpersonen zur Idee der Inklusion?
Viele Lehrpersonen begrüssen das inklusive Bildungssystem, fühlen sich jedoch teilweise zu wenig unterstützt in der Umsetzung. Das zeigt eine aktuelle Umfrage des «Dachverbandes Lehrerinnen und Lehrer Schweiz» (LCH), wonach die hohe Belastung auch mit den Herausforderungen der Inklusion zu tun habe. Das wird in den Medien denn auch häufig als «Beweis» angeführt, dass die schulische Inklusion gescheitert sei. Der LCH selbst steht explizit hinter der Inklusion, fordert aber mehr Ressourcen (Personen, Räume, Fachlichkeit), die bei besonderen Belastungen als Puffer niederschwellig eingesetzt werden können.
Quelle: Die Berufszufriedenheit der Deutschschweizer Lehrerinnen und Lehrer (2024). Studie Büro Brägger im Auftrag des Dachverbandes Schweizer Lehrerinnen und Lehrer LCH.
Eine Möglichkeit der Entlastung sind Förder- und Kleinklassen. Was sind Vor- und Nachteile?
Der Vorteil ist, dass die Lehrpersonen und die Klasse kurzfristig entlastet werden, wenn die Schülerinnen und Schüler mit aufwändigen Lern- und Verhaltensproblemen weg sind. Dadurch sinkt der Stress der Lehrperson. Unklar ist hingegen, was die Folgen für die betroffenen Kinder sind – für ihre Entwicklung, ihre Leistungen und den Einstieg in den Beruf. Ebenso muss untersucht werden, wie eine erfolgreiche Rückkehr in die Stammklasse gelingen kann.
Was sind die Effekte auf die Stammklasse?
Die Befürworter sagen, dass die Lehrperson mehr Zeit für die individuelle Betreuung der anderen Lernenden hat. Allerdings ist zu beachten, dass der grösste Teil der heilpädagogischen Ressourcen in die separativen Angebote abfliessen. Diese fehlen in der Regelklasse und somit bei der Förderung von Kindern mit schwachem oder mittlerem Förderbedarf. Das kann zur Folge haben, dass diese Kinder ihrerseits auffällig werden und eine niederschwellige heilpädagogische Förderung brauchen.
Als Lösung zur Entlastung anstelle von Förderklassen wird oft der «erweiterte Lernraum» genannt. Was ist die Grundidee?
In Einklang mit der Förderklassen-Initiative wird festgestellt, dass die Lehrpersonen entlastet werden sollen. Allerdings soll diese Entlastung mit einem niederschwelligen Modell erreicht werden. Die Gemeinden können «erweiterte Lernräume» für jene Schülerinnen und Schüler schaffen, die vorübergehend nicht in eine Regelklasse integriert werden können. Dies sei «effizienter und kostengünstiger» als Förderklassen, so der Regierungsrat. Für die Schaffung dieser Möglichkeit bräuchte es eine Anpassung des Volksschulgesetzes. Die zusätzlichen Ressourcen würden den Gemeinden vom Kanton über eine Erhöhung des Gestaltungspools zur Verfügung gestellt.
Ersetzen diese Förderklassen die Kleinklassen?
Nein. Die aktuellen Diskussionen werden oft unter dem Schlagwort «Zurück zur Kleinklasse» geführt. In vielen Kantonen gibt es aber immer noch die Möglichkeit, Kleinklassen anzubieten. Man muss aber die erforderlichen Ressourcen dafür einsetzen.
Was ist teurer – Inklusion oder Separation?
Das hängt von der Verteilung der Ressourcen ab. Bei separativen Angeboten sind die heilpädagogischen Ressourcen zu grossen Teilen an einem Ort gebunden, zum Beispiel eben in den Förderklassen. Sie fehlen dann in der Regelklasse und somit bei der Förderung von Kindern mit schwachem oder mittlerem Förderbedarf. Das kann dazu führen, dass diese Kinder ihrerseits nicht adäquat gefördert und unterstützt werden und in der Folge eine niederschwellige heilpädagogische Förderung brauchen. Das kostet. Sind die Ressourcen intelligent im System verteilt, besteht diese Gefahr weniger.
Wann nützt ein temporäres Time-out bei Verhaltensschwierigkeiten?
Zwei Faktoren sind wichtig, damit ein Time-out die erwünschte Wirkung zeigt. Erstens: Mit den betroffenen Kindern und Jugendlichen muss kompetent an ihrer Wahrnehmung und ihrem Verhalten gearbeitet werden. Zweitens: Die Rückintegration ist das oberste Ziel und muss aktiv geplant und begleitet werden. Dazu gehört, dass sich auch die Klassenlehrperson und die Stammklasse als aktive Bestandteile der Situation verstehen und nicht die ganze Problemlast einfach auf das Kind schieben.
Was weiss man über die spätere gesellschaftliche Integration von ehemaligen Sonderklassenschülerinnen und -schülern?
Integriert geschulte Kinder mit Lern- und Verhaltensproblemen haben bessere Chancen auf einen erfolgreichen Berufseintritt als jene mit Sonderklassenabschluss. Auch in Bezug auf Freundschaften und ein positives Selbstkonzept zeigen junge Erwachsene deutlich bessere Werte, wenn sie in integrativen Schulformen unterrichtet wurden.
Quellen:
- Eckhart, M., Haeberlin, U., Sahli Lozano, C. & Blanc, P. (2011). Langzeitwirkungen der schulischen Integration. Eine empirische Studie zur Bedeutung von Integrationserfahrungen in der Schulzeit für die soziale und berufliche Situation im jungen Erwachsenenalter. Bern: Haupt.
- Riedo, D. (2000). «Ich war früher ein sehr schlechter Schüler...» Schule, Beruf und Ausbildungswege aus der Sicht ehemals schulleitungsschwacher Erwachsener. Analyse von Langzeitwirkungen schulischer Integration oder Separation. Bern: Haupt.
Was muss sich ändern, damit schulische Inklusion besser funktioniert?
Es braucht in erster Linie mehr heilpädagogisches Know-how im System. Dies kann gelingen, indem sich mehr Lehrpersonen heilpädagogisches Know-how aneignen können – und zwar genau dann im Verlauf ihrer Karriere, wenn sie es brauchen. Das ist die Grundidee des Laufbahnmodells der HfH, mit dem Fachpersonen systematisch und flexibel Ihre Kompetenzen in heil- und sonderpädagogischen Fragen erweitern können.
Welche Erfolgsbeispiele gibt es?
In der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein gibt es vorbildliche Projekte, die zeigen, wie eine inklusive Schule mit bestimmten Gruppen (Kinder mit Lern- und Verhaltensproblemen, Hörbeeinträchtigung, Autismus-Spektrum-Störungen, usw.) funktionieren kann. Die Videoreihe «Voneinander wissen, voneinander lernen» der HfH porträtiert erfolgreiche Praxisbeispiele.
Quelle: Eine Schule für Alle – voneinander wissen, voneinander lernen (2024). Videoreihe von Peter Lienhard im Auftrag der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich.
Weiterführende Literatur
- Schweizer Zentrum für Heil- und Sonderpädagogik (SZH): FAQ Schulische Integration (2025). U.a. werden die zentralen Begriffe definiert sowie die Bildungspolitik rund um die schulische Integration näher ausgeführt.
- Pädagogische Hochschule Luzern: Factsheet zur schulischen Integration/Inklusion (2024). Der Fokus liegt auf der Forschung.
- Lanners, Romain, Meier-Popa, Olga & Wetter, Thomas (2024). Was wissen wir über die schulische Integration in der Schweiz? Bern, SZH. Überblick über die Praxis der schulischen Integration in der gesamten Schweiz.