Wer ist hier behindert?

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Wiederum kommt eine sowohl herzhafte Komödie wie ein zauberhafter Liebesfilm über Behinderung aus Frankreich: ein Frauenheld verliebt sich ausgerechnet in eine im Rollstuhl sitzende, gelähmte Frau. Ob das hinhaut und gut gehen kann, das ist das Thema des Films Tout le monde debout (Liebe bringt alles ins Rollen) von Franck Dubosc. Es ist ein Wohlfühlfilm auf gehobenem Niveau, der Behinderung im gewissen Sinn dekonstruiert und darin in vielem den Spiess umdreht.

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Der 49jährige Jocelyn (Franck Dubosc) ist erfolgreicher Geschäftsmann und CEO sowie charmanter Verführer. Insgesamt ein flippiger und unbeschwerter Typ, für den es keine Probleme gibt. Er wechselt seine Rollen wie es ihm gerade passt und die Frauen öfters als andere ihre Socken. Die Lüge macht er zum Prinzip und auch sonst ist er eher unbeholfen. Selbst mit einem solchen Fauxpas, dass er zur falschen Beerdigung geht, dies schnell an der Hautfarbe hätte merken müssen.

In der Wohnung der verstorbenen Mutter schaut er Briefe und Fotos durch, im Rollstuhl der Mutter sitzend. Da bittet die hübsche Nachbarin Julie (Caroline Anglade) ihn um Hilfe bei einem Schrank. Sie ist arbeitslose Pflegerin und bietet ihm gleich ihre Hilfe an, da sie denkt, er sei behindert. Julie lädt Jocelyn zum familiären Grillabend ein, wo sie ihm ihre attraktive Schwester Florence (Alexandra Lamy) vorstellt, die nach einem Autounfall wirklich an den Rollstuhl gefesselt ist. Immerhin vorurteilsfrei unterhält sich Jocelyn mit Florence. Florence ist Geigerin, eine ausgesprochene Frohnatur, lacht viel, gibt sich unbekümmert, locker und freundlich, intensiv und stark, alles in allem eine Idealisierung einer Person mit Behinderung. Und eine Frau zum Verlieben. Jocelyn ist schnell von Florence fasziniert, bespricht das mit seinem ärztlichen Freund Max (Gérard Darmon), aber der rät von einer solchen Beziehung ab.

Florence kommt ungeniert bei Jocelyns Büro vorbei, während er sich verlegen auf sein Pult setzt. Es geht um Mitleid und wie es ist, wenn man im Rollstuhl sitzt. Sie spielt Tennis und was wir zu sehen bekommen, ist ansprechend, zeigt wozu Personen mit Behinderung fähig sind. Jocelyn sieht ausserhalb ihr zu und muss mit einer hörgeschädigten Person lauter reden. Danach trifft man sich mit anderen behinderten Personen, wie einer Blinden oder einem Amputierten und Jocelyn äussert sich despektierlich, was Florence halbherzig versteht. In einem Restaurant treffen sie auf einen kleinwüchsigen Kollegen, der eine Transvestitin bei sich hat. Mit einer Selbstverständlichkeit werden andere Personen mit Behinderung gezeigt.

Jocelyn besucht das Konzert von Florence in Prag im elektrischen Rollstuhl, den er nur mässig beherrscht, was ein weiteres Mal zeigt, dass wir alle irgendwie behindert sind. Das gleiche lässt sich sagen, als Jocelyn sie zu sich einlädt, wo er alles umständlich macht, sie es locker nimmt. Verstärkt wird dies dadurch, dass Jocelyn im edlen Restaurant – in welches er Florence einlud - abräumt und sich noch mehr blamiert bei Florence, als er ein italienisches Lied mitsingt. Sie setzt sich eine Brille auf, die er sexy findet, freilich mit dem Seitenwink, dass sie ein weiteres Problem hat. Oder vielmehr Jocelyn, denn er hat «je suis handicapée» inkorporiert, dem selbst Julie zustimmt, wenn auch im anderen Sinn.

Jocelyn wird als typischer Mann inszeniert, eine kokettierende Julie fragt ihn, ob Männer mit Behinderung nichts anderes könne als auf Busen zu schauen. Auch Florence ist sich ihrer Reize bewusst, sogar durchaus sexuell herausfordernd, was man so selten in Filmen über Behinderung sieht. Dennoch geht es um mehr über Beziehungen, die bei Nichtbehinderten nie lange halten, aber bei Personen mit Behinderung erst gar nicht beginnen. Florence gesteht Julie, dass es schön ist, geliebt zu werden, selbst wenn das auf falschen Prämissen beruht. Dies alles wird mit wohltuender Zurückhaltung angesprochen, ohne dass das Thema mit Scheuklappen versehen wird. Sie schätzt es allerdings, dass Jocelyn sie als Frau sieht. Und merkt, dass Jocelyn herumläuft beim Telefonieren und noch viel mehr, was Jocelyn verschweigt oder worüber er lügt.

Wird Jocelyn Florence überzeugen können, dass er der richtige ist und wird Florence jemand nehmen, der sich als mehr behindert erwiesen hat als sie? Es gibt noch etliches zum Lachen und Staunen, bis hin zum ungewöhnlichen und keineswegs kitschigen Ende. Eine wunderbare Darstellung einer Frau mit Behinderung, die nicht in Missmut versinkt, wobei das fast ein wenig zu positiv dargestellt ist. Der Film dekonstruiert nicht nur Behinderung, sondern auch die Top-Manager, die ihr Leben nicht im Griff haben. Immerhin zog der Film in Frankreich 2 400 137 ZuschauerInnen an, ein stolzer Erfolg für einen Erstlingsfilm. Was ein interessanter Nebenaspekt ist, dass er neben Les Beaux Esprits und La Prunelle de mes yeux ein weiterer aktueller Film aus Frankreich ist, wo es um gefakte Behinderung geht. Nebenbei bemerkt, ist Frankreich ein gutes Pflaster für Filme, in denen Behinderung eine Hauptrolle spielt, wie sich an Intouchables oder La famille Bélier zeigt.

Autor: Achim Hättich, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter Institut für Professionalisierung und Systementwicklung

HfHnews September 2018

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