Zurück ins Leben - Aktivitäten geleitete Aphasiediagnostik (AgAD)

Kategorie Projekt

Ausgangslage und Ziele

Eine umfassende Diagnostik ist bei Aphasie die Voraussetzung für eine individuell angepasste und an Teilhabe orientierten Sprachtherapie. Neben sprachlich-kommunikativen Kompetenzen, soll die Diagnostik auch Ressourcen und Einschränkungen im Alltag erfassen, indem exemplarisch Aktivitäten untersucht werden. Im deutschsprachigen Raum gibt es einzelne Verfahren, die sprachliche Aktivitäten valide und reliabel prüfen. Als Ergebnis dieses Forschungsprojektes liegt eine Pilotversion eines teil-digitalen Assessment vor, das alltagsrelevante Aktivitäten im Kontext Restaurantbesuch erfasst. Grundlage für die Entwicklung der Screeningaufgaben war die Erhebung bei Betroffenen über die, für sie bedeutsamen Aktivitäten.

Projektleitung

Erika Hunziker Titel Dr. phil.

Funktion

Senior Lecturer / Leiterin Master Logopädie

Fakten

  • Dauer
    10.2022
    10.2024
  • Projektnummer
    4_53

Projektteam

Ausgangslage

Eine Aphasie ist eine erworbene Sprachstörung, die alle sprachlichen Modalitäten, d.h. Sprechen, Verstehen, Lesen und Schreiben betrifft. Vor dem Ereignis verfügten die Betroffenen in der Regel über eine normale Sprachkompetenz. In der Schweiz treten jährlich ca. 5000 neue Aphasien auf (aphasie suisse o.J). Diese zentralbedingte sprachliche Funktionsstörung kann unterschiedliche Schweregrade aufweisen, d.h. leichte bis sehr schwere sprachliche Beeinträchtigungen. Betroffene sind häufig sprachlich und kommunikativ so eingeschränkt, dass die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erschwert bis unmöglich ist.
Die Rehabilitation der Aphasie erfolgt durch sprachtherapeutische Einzel- und Gruppentherapie. Ziel der Therapie ist es durch gezielte Interventionen sprachliche Einschränkungen zu reduzieren und die Wiedereingliederung zu ermöglichen. Eine an der ICF orientierte Sprachtherapie umfasst die Komponenten Funktion, Aktivität und Partizipation sowie personale- und Umweltfaktoren (vgl. Grötzbach & Iven, 2014). Voraussetzung für eine gezielte individuell ausgerichtete Therapie, die die ICF-Zielsetzung konsequent verfolgt, ist eine Top-Down-Diagnostik, die sprachliche Einschränkungen zuerst auf Aktivitätsebene erfasst und davon ausgehend die zugrundeliegenden Probleme auf der sprachlichen Funktionsebene untersucht. Aktivität ist dabei als ein Teil der Partizipation zu verstehen. Bisher gibt es kaum Diagnostikinstrumente, die Dimensionen der Aktivität und Partizipation bei Aphasie erfassen. Im deutschsprachigen Raum gibt es drei standardisierten Erhebungsverfahren für die Komponente Aktivität:

  • Kommunikativ-pragmatisches Screening für Aphasie (KOPS; Glindemann et al., 2018),
  • Szenario-Test (Nobis-Bosch et al., 2019) 
  • Amsterdam-Nijmegen Everyday Language Test (Blomert & Buslach, 1994a; 1994b)

Die kommunikativen Fähigkeiten werden in den drei Verfahren mehrheitlich unabhängig von der Aktivität erfasst. Sie bilden zwar die Kommunikationsfähigkeit mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln ab (totale Kommunikation), sie geben aber keine direkten Hinweise, wie kommunikative Aufgaben im Alltag sprachlich gelöst werden können. Zudem geben diese Verfahren keine Hinweise auf die zugrundeliegenden Störungen der Sprachfunktion. Ein Verfahren zur Erfassung von Einschränkungen der Bewältigung kommunikativ-sprachlichen Anforderungen in Aktivitäten, das die üblichen psychometrischen Kriterien (Objektivität, Reliabilität, Validität und Normierung) erfüllt, gibt es im deutschen Sprachraum bisher nicht.

Ziel des vorliegenden Projektes war die Entwicklung einer Pilotversion eines Aktivitäten-geleiteten Screenings für die Aphasiediagnostik.

Vorgehen

Die Entwicklung des Screenings basierte auf einer systematischen Recherche zu bestehenden Verfahren im deutschsprachigen Raum, die sprachlich-kommunikative Aktivitäten in Verbindung mit Handlungen prüfen. Im Fokus standen dabei die Fragen: Welche Aktivitäten sind für Aphasiker:innen typisch? Wie lassen sich Aufgabenstellungen operationalisieren? Und wie können Einschränkungen sowie der Schweregrad bei der Bewältigung einer Aktivität erfasst werden?

Zur Auswahl der Aktivitäten wurden gemäss dem E3BP-Modell (Dollaghan, 2007) drei Evidenzquellen berücksichtigt: externe Evidenz (Literaturrecherche), interne Evidenz (Expertise des Forschungsteams) und soziale Evidenz (Befragung von 30 Aphasiker:innen). Mit dem «Fragebogen zur Erfassung von Aktivitäts- und Teilhabezielen im Sinne der ICF bei Menschen mit Aphasie» (FATMA 2.1) wurden 30 erwachsene Personen mit Aphasie (18 männlich, 12 weiblich; Durchschnittsalter: 47,8 Jahre; Altersspanne: 18;10–77;11) zu für sie relevanten Aktivitäten befragt. Die Ergebnisse wurden hierarchisiert, und im Konsensverfahren wurden Aktivitäten ausgewählt, die sich in den situativen Kontext «Restaurantbesuch» integrieren liessen. Dieser Kontext wurde gewählt, da neurokognitive Erkenntnisse darauf hinweisen, dass zur Bewältigung realer Situationen auf mentale Wissensstrukturen zurückgegriffen wird.

Die sechs Module des Screenings wurden operationalisiert, indem die Aktivitäten in Teilschritte aufgeschlüsselt und hinsichtlich ihrer kommunikativen, sprachlichen, kognitiven und motorischen Anforderungen analysiert wurden. Ergänzend zur Fachexpertise des Forschungsteams wurden Fachliteratur und bestehende Diagnostikverfahren herangezogen, darunter ANELT (Brunner & Steiner, 2009), Szenario (Nobis-Bosch et al., 2020) und KOPS (Glindemann et al., 2018).

Ergebnisse

Zum Projektabschluss liegt eine teil-digitale Pilotversion des Screenings mit sechs Modulen vor, die jeweils eine Anleitung und einen Protokollbogen mit Auswertungskriterien umfassen. Der Kontext Restaurant umfasst die Module Terminvereinbarung, Internetrecherche, App-Nutzung, Teilschritte im Restaurant, Nutzung sozialer Medien und Gesprächsführung. In der Evaluation des Moduls ‚Terminvereinbarung‘ wurde die Alltagsnähe und  -relevanz der Aufgabe hervorgehoben. Die Evaluation des gesamten Screenings ist im Rahmen der Projektfortsetzung vorgesehen.

Fazit für die Praxis

Die Operationalisierung der Screeningaufgaben verdeutlichte die Komplexität der Prüfung von Alltagaktivitäten. Beispielsweise bietet die Terminvereinbarung unterschiedliche Optionen, etwa online oder über ein direktes Telefongespräch. Weiter handelt es sich dabei nicht um vollständig authentische Alltagssituationen, da bspw. das Telefongespräch oder die Reservation des Restaurants als Rollenspiel mit der Therapeutin gemacht werden und bei der Nutzung der SBB-APP kein Billett gelöst wird. Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz könnte dazu beitragen, diese Aufgaben noch realistischer zu gestalten. Das Screening liefert Informationen darüber, wie sprachliche Aktivität im Alltag bewältigt werden, und ermöglicht die Ableitung von aktivitätsbezogenen Therapiezielen. Eine Evaluation des gesamten Screenings ist geplant.

Literatur

  • Blomert, L., & Buslach, D. C. (1994a). Funktionelle Aphasiediagnostik mit dem Amsterdam-Nijmegen Everyday Language Test (ANELT). Forum Logopädie, 2, 3–6.
  • Feil, S., Hunziker, E., & Weng, I. (2023). Zurück in den Alltag – Aktivitäten-geleitete Aphasie Diagnostik. logoTHEMA, 20(1), 24–27.
  • Feil, S., Hunziker, E., Weng, I., Grötzbach, H., Jehle, S., Steiner, J., Bohnert-Kraus, M., & Kramer, F. (2023). Zurück in den Alltag: Aktivitäten-geleitete Aphasie Diagnostik (AgAD) [Poster]. Jahrestagung der Gesellschaft für Aphasieforschung und –behandlung, Graz, Österreich.
  • Glindemann, R., Zeller, C. & Ziegler, W. (2018). KOPS. Kommunikativ pragmatisches Screening für Patienten mit Aphasie. Untersuchung verbaler, nonverbaler und kompensatorisch-strategischer Fähigkeiten. Hofheim: NAT.
  • Grötzbach, H., Hollenweger-Haskell, J. & Iven, C. (Hrsg.) (2014) : ICF und ICF-CY in der Sprachtherapie (2. Auflage). Idstein: Schulz-Kirchner.
  • Haid, A., & Steiner, J. (2013). ICF in der Umsetzung im stationären Alltag der Aphasietherapie. Ergebnisse einer Befragung von Logopädinnen und Logopäden im Drei-Länder-Vergleich (Schweiz, Österreich und Deutschland) – Ausschnitt Deutschschweiz. SAL-Bulletin, 149, 24–32.
  • Nobis-Bosch, R., Bruehl, S., Krzok, F., & Jakob, H. (2020). Szenario Test. Testung verbaler und nonverbaler Aspekte aphasischer Kommunikation. ProLog.
  • Spitzer, L., Grötzbach, H., Kaiser, J., Klinck, M. & Lauer, N. (2021). FATMA 2.1: Fragebogen zur Erfassung von Aktivitäts- und Teilhabezielen im Sinne der ICF bei Menschen mit Aphasie. Idstein: Schulz-Kirchner.