Transformation zur tragfähigen integrativen Schule

Kategorie Projekt

Ausgangslage und Ziele

Die Steuerung von Inklusion ist eine virulente Frage in Forschung und Praxis (Kruschel & Merz-Atalik, 2023). Dabei wird hervorgehoben, dass es sich – entgegen oberflächlicher Organisationsentwicklungsprozessen – um Transformationsprozesse handelt, mit denen die Schule konfrontiert ist (Koenig, 2022). Diesen Prozessen widmet sich das Forschungsprojekt. Im Projekt werden über drei Jahre an drei Zeitpunkten Interviews mit den beteiligten Schulen geführt, um zu analysieren, welche Verflechtungen (Latour, 2007) in welcher Form zur Tragfähigkeit der Schulen beitragen und wie sich diese durch Schulentwicklungsprozesse verändern oder transformieren lassen.

Projektleitung

David Labhart Titel Prof. Dr.

Funktion

Professor für Systementwicklung und Inklusion

Fakten

  • Dauer
    11.2024
    08.2028
  • Projektnummer
    5_69

Projektteam

Finanzielle Unterstützung

Ausgangslage

«Wie können wir das Bildungssystem in ein wirklich inklusives System umwandeln? Ich glaube, wir müssen nur eine einzige Kleinigkeit ändern, nur eine kleine Sache, nämlich alles.» Prof. Dr. Vernor Muñoz, UN-Sonderberichterstatter für das Menschenrecht auf Bildung (2004–2010)

Was Muñoz im Eröffnungsvortrag auf dem Bundeskongress «Eine für alle – Die inklusive Schule für die Demokratie» am 26. September 2016 in Frankfurt am Main konstatierte, hat sich in übertragenem Sinne in der Schweiz etabliert: Nach 20 Jahren Integrationsbemühungen (Kt. Zürich: Neues Volksschulgesetz im Jahr 2004) überlegen sich Gemeinden, wie «Transformationen» umgesetzt werden können, damit die Schule ihrem inklusiven Auftrag als «tragfähige integrative Schule» gerecht werden kann. Mit dem Begriff Transformation wird ein Verständnis von Wandel aufgerufen, das sich nicht an «klassischer» Organisationsentwicklung und Changemanagement orientiert, die sich im Nachgang der Einführung von Input-Output-Kontrolle und New Public Management im Schulfeld verbreitet haben (dazu Bellmann, 2014). Vielmehr sollen Transformationen radikale Veränderungen ermöglichen, in dem Sinne, dass Verflechtungszusammenhänge an der Wurzel (lat. radix) angegangen werden.

Im Feld der Governance wird auf das Allgemeine fokussiert, und damit auf die Organisation, mit der man gerne integrative Prozesse steuern möchte. Inhaltlich ist Inklusion jedoch in ihrer negativen Praxis viel mehr etwas Institutionelles als etwas zu Ende Organisiertes/Verdinglichtes: Eine Kultur – eine Art, zusammen zu leben. Dieses Institutionelle (Abels, 2019) zeichnet sich durch Lebendigkeit und komplexe Kausalität (Morin, 2010) aus. Eine tragfähige integrative Schule bezeichnet somit nicht eine gut eingerichtete rationale bürokratische Organisation (Weber, 2009), sondern eine Praxis, die sich laufend dem Besonderen der anti-Diskriminierung und der anti-Marginalisierung widmet.

In einer Zürcher Schulgemeinde hat die Schulleitungskonferenz eine Transformation zur «tragfähigen, innovativen und integrativen Schule mit Beispielcharakter, die mit Passion geführt wird» angestossen. Das Forschungsprojekt analysiert im Längsschnitt die Tragfähigkeit und die Transformationsfähigkeit der Schuleinheiten im Besonderen und in ihren Relationen in der Schulgemeinde.

Methode

Die Forschung kann nach Weicks (1995) «Thorngates Clock» als 6-Uhr-Forschung bezeichnet werden: Indem sie sich dem Besonderen widmet, kann sie als «spezifisch» bezeichnet werden, wobei sie dadurch zwischen «einfach» und «genau» situiert werden kann. In der Beschreibung des Besonderen als Akteurnetzwerk (Latour, 2007) kann sichtbar werden, was oder wer was und wen wie zum Handeln bringt (ebd.), Transformationen gelingen oder Etwas aufrecht erhalten bleibt. Durch die Vertiefung in die Besonderheiten kann darüber hinaus im Sinne Adornos (2021) «Wesentlichen» ‘quer durch die Uhr’ zum Allgemeinen, Institutionellen vorgestossen werden, das latent und wirkmächtig die Handlungsmöglichkeiten prägt.

Folgende Fragestellungen werden ergründet:

  1. Wie fühlen sich Mitarbeitende in Bezug auf ihre Selbstwirksamkeit, auf die Belastung und die Transformationsbereitschaft?
  2. Wie verändert sich diese Einschätzung über die drei Messzeitpunkte? Wie gestaltet sich die unterrichtsbezogene Zusammenarbeit und die fallbezogene multiprofessionelle Kooperation in den Schuleinheiten? Sind Veränderungen über die drei Messzeitpunkte auszumachen?
  3. Welche Handlungen/Akteure übernehmen in den spezifischen (Transformations-)Prozessen in den einzelnen Schuleinheiten oder übergeordnet auf Gemeindeebene welche Rolle? Wie kann dies institutionell gedeutet werden?

Zu drei Zeitpunkten werden im Abstand von je eineinhalb Jahren jeweils folgende Erhebungen durchgeführt:

Quantitative Fragebogenerhebung

Es wird eine quantitative Fragebogenerhebung bei allen pädagogisch tätigen Personen der Schulgemeinde durchgeführt. Dabei werden individuelle sowie kollektive Selbstwirksamkeitsüberzeugungen, individuelle sowie kollektive Transformationsbereitschaft und individuelles sowie kollektives Belastungserleben erhoben (validierte Skalen, teilweise an die Situation angepasst). Darüber hinaus wird die Psychologische Sicherheit (Edmondson, 2020) für verschiedene Teams erhoben.

Qualitative Interviews

Es wird in einem stündigen Gruppeninterview in einer multiprofessionell zusammengesetzten Gruppe in jeder Schuleinheit qualitativ erhoben, wie die unterrichtsbezogene Zusammenarbeit als auch die fallbezogene multiprofessionelle Kooperation gestaltet wird. Auch werden Widerstände zur Transformation erfragt. Es ist bekannt, dass Veränderungen der Schulorganisation nicht automatisch Veränderungen der Praxis nach sich ziehen, sondern dass eher die «inneren Arbeitsroutinen unverändert» (Vogel, 2006, S. 34) fortbestehen. Mit dem Blick darauf, wie die Gruppen über Zusammenarbeit und Fälle sprechen, kann analysiert werden, wie sich Arbeitsroutinen verändern oder nicht.

Mit den Schulleitungen wird in einem stündigen Interview erhoben, welche Transformationsprozesse angegangen wurden und werden und mit welchen Widerständen sie konfrontiert sind. Schulleitungen werden in der Forschung als wichtige Innovator:innen in inklusionsorientierten Entwicklungsprozessen angeschaut (Badstieber, 2021; Scheer, 2020). Sie haben von der Gemeinde her den Auftrag, den Transformationsprozess in ihrer Schule zu gestalten. Die Aussagen der Schulleitung gibt wichtige Hinweise darauf, was im Bereich der Schulentwicklung angegangen wurde, wer von der Schule wie dafür interessiert werden konnte und welche Rollen in diesen Entwicklungsprozessen eingenommen werden konnten (Callon, 2006).

Auswertung

Die Auswertung der sechs Skalen der quantitativen Fragebogendaten erfolgt zum ersten Messzeitpunkt in Relation zum Mittelwert der entsprechenden Skalen der gesamten Schulgemeinde. Zum zweiten und dritten Zeitpunkt werden die Veränderungen zu den vorhergehenden Messzeitpunkten dargestellt. Um die Relationen der einzelnen Skalen als Muster sichtbar zu machen, werden die Daten in Form einer Smart-Spider-Grafik dargestellt.

Die qualitativen Interviews werden in einem mehrstufigen Verfahren hermeneutisch analysiert und gedeutet:

  1. Geglättete Transkription
  2. Zusammenfassung der Antworten und Erzählungen auf manifester Ebene (gesprochenes Wort)
  3. Gruppeninterview: Analyse der Inszenierung der Gruppe (Bauleo, 2013), insbesondere auf Grundannahmen (Bion, 2001) sowie damit einhergehend auf die Verortung dieser Grundannahmen.
  4. Verknüpfung der Informationen aus dem Schulleitungsinterview mit den Analysen aus den Gruppeninterviews.
  5. Weiterverfolgung bestimmter, sich im Besonderen zeigenden Entitäten als BlackBoxen (Latour, 2007) im Sinne von dahinterliegenden Selbstverständlichkeiten, Ideologien, Fantasien als «Wesentliches» (Adorno, 2021) in Verflechtung mit anderen Daten (Statistik, Gespräche, etc.).

Erwartete Ergebnisse

Im Besonderen der einzelnen Schuleinheiten können sowohl institutionelle Widerstände als auch Möglichkeiten sichtbar gemacht werden. Die Daten werden für jede Schuleinheit einzeln ausgewertet und den Schulleitungen zugesandt (quantitativer und qualitativer Bericht). In einer Schulleitungskonferenz werden die Ergebnisse gemeinsam mit den Schulleitungen so diskutiert und partizipativ gedeutet, dass die Schulleitungen das Wissen als Reflexionswissen für einen weiteren Entwicklungszyklus (eineinhalb Jahre) fruchtbar machen können.

Die Ergebnisse des Längsschnittes werden zusätzlich in ihren Verflechtungen analysiert. Damit werden die Wege nachgezeichnet, die gegangen werden und die dabei auftauchenden Widerstände und Möglichkeiten sichtbar gemacht. So wird Wissen gewonnen, wie Schulen sich transformieren, um einen Beitrag dazu zu leisten, wie inklusionsorientierte Transformationsprozesse besser gestaltet werden können.

Literatur

Abels, H. (2019). Institution: Feststellung von sozialen Regeln und Formen. In H. Abels, Einführung in die Soziologie (S. 119–157). Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-22472-1_5

Adorno, T. W. (2021). Einleitung in die Soziologie: 1968 (6. Auflage). Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Badstieber, B. (2021). Inklusion als Transformation?! Eine empirische Analyse der Rekontextualisierungsstrategien von Schulleitenden im Kontext schulischer Inklusion. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.

Bauleo, A. (2013). Ideologie, Familie und Gruppe. Zürich: Lit.

Bellmann, J. (2014). Vom Taylorismus über Organisationsentwicklung zum New Public Management und darüber hinaus – Zur Rezeptionsgeschichte ökonomischen Qualitätsmanagements im pädagogischen Feld. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 17(S6), 47–65. https://doi.org/10.1007/s11618-014-0573-7

Bion, W. R. (2001). Erfahrungen in Gruppen und andere Schriften (3.). Stuttgart: Klett-Cotta.

Callon, M. (2006). Einige Elemente einer Soziologie der Übersetzung: Die Domestikation der Kammmuscheln und der Fischer der St. Brieuc-Bucht. In A. Belliger & D. J. Krieger (Hrsg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie (S. 135–174). Bielefeld: transcript.

Edmondson, A. C. (2020). Die angstfreie Organisation: Wie Sie psychologische Sicherheit am Arbeitsplatz für mehr Entwicklung, Lernen und Innovation schaffen. München: Franz Vahlen.

Kruschel, R., & Merz-Atalik, K. (Hrsg.). (2023). Steuerung von Inklusion!?: Perspektiven auf Governance Prozesse im Schulsystem. Wiesbaden: Springer Fachmedien. https://doi.org/10.1007/978-3-658-40103-0

Koenig, O. (Hrsg.). (2022). Inklusion und Transformation in Organisationen. Julius Klinkhardt. https://doi.org/10.35468/5978

Latour, B. (2007). Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Scheer, D. (2020). Schulleitung und Inklusion: Empirische Untersuchung zur Schulleitungsrolle im Kontext schulischer Inklusion. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-27401-6

Vogel, C. (2006). Schulsozialarbeit. Eine institutionsanalytische Untersuchung von Kommunikation und Kooperation. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Weber, M. (2009). Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie (5., rev. Aufl.). Tübingen: Mohr Siebeck.

Weick, K. E. (1995). Der Prozeß des Organisierens. Frankfurt am Main: Suhrkamp.