Morphologische Bewusstheit im Kindergarten

Kategorie Projekt

Ausgangslage und Ziele

Kinder wenden bereits früh in der Sprachentwicklung unbewusst Wortbildungsmechanismen an. Dadurch entstehen Wortneuschöpfungen wie: «Das ist mir zu steilig!». Die Forschung zeigt, dass diese Fähigkeit die Sprachentwicklung unterstützt und für den Schriftspracherwerb eine wichtige Rolle spielt. Die Entwicklung der einzelnen Fertigkeiten im Bereich der morphologischen Bewusstheit ist bisher unzureichend erforscht. Das Projekt legt mit einer Untersuchung im Dialekt bei Kindergartenkindern hierfür einen Grundstein.

Projektleitung

Britta Massie Titel Prof., Dr. rer. biol. hum.

Funktion

Professorin für Sprachförderung und Sprachdidaktik in heterogenen Lerngruppen (in Stellenteilung)

Fakten

  • Dauer
    01.2025
    12.2025
  • Projektnummer
    4_61

Finanzielle Unterstützung

  • Deutschschweizer Logopädinnen- und Logopädenverband DLV

Ausgangslage

Die kleinste bedeutungstragende Einheit der Morphologie ist das Morphem (Carlisle, 2003). Mit dem Konzept der morphologischen (auch morphematischen) Bewusstheit (MB) wird die Fähigkeit, Morpheme wahrzunehmen und sie zu manipulieren, beschrieben (Casalis et al., 2004). Das Konstrukt der MB wird zunehmend als wichtige Grundlage für den Schriftspracherwerb betrachtet. Im englischsprachigen Raum wird der Zusammenhang ungefähr seit der Jahrtausendwende erforscht (Carlisle, 2003; Casalis et al., 2004; Elbro et al., 1998). Im deutschsprachigen Raum finden sich weniger Forschungsarbeiten dazu (z.B. Ewald & Steinbrink, 2023; Kargl et al., 2018). Jedoch steigt die Forschungstätigkeit in den letzten Jahren vermehrt, da die Evidenzen aus dem anglo-amerikanischen Raum nur bedingt auf den deutschsprachigen Raum übertragbar sind (Volkmer et al., 2019). Morphologische Fähigkeiten wie der Plural- oder Genuserwerb können im Vorschulalter zwar standardmässig erhoben werden. Jedoch wurde das Konstrukt der MB bisher nicht zufriedenstellend beschrieben. So wurden nur wenige implizite Testaufgaben (Kargl et al., 2018) oder Aufgaben zur Rezeption der MB entwickelt (vgl. Heidelberger Auditives Screening in der Einschulungsuntersuchung, HASE, Schöler & Brunner, 2008; Heidelberger Vorschulscreening, HVS, Brunner, Troost, Pfeiffer, Heinrich & Pröschel, 2001) und untersucht. Um die MB zu verstehen und mögliche Entwicklungsstufen abbilden zu können, benötigt es zunächst eine aussagekräftige Aufgabensammlung. Diese sollte, ähnlich wie im zweidimensionalen Konstrukt der phonologischen Bewusstheit (Schnitzler, 2008), sowohl den Explizitheitsgrad der Aufgaben, von implizit zu explizit, systematisch prüfen als auch die verschiedenen Operationen der MB. Diese sind die Flexion, Derivation und Komposition.

Das vorliegende Projekt nimmt diese Thematik auf und lässt eigens erstellte Testaufgaben durch eine Expertinnengruppe hinsichtlich der Passung zum Konstrukt MB und zur Kompetenz zu testenden Proband:innen prüfen. Im Anschluss werden die Aufgaben mit Kindergartenkindern in der Deutschschweiz durchgeführt. Es ergeben sich hierbei zwei zentrale Fragestellung. Die erste betrifft das Konstrukt der MB und die Passung der Testaufgaben dazu. Die Forschungsfragen lauten:

  • Korrelieren die Leistungen mit der Einschätzung der sechs Expertinnen?
  • Stimmen die Ergebnisse mit dem Expertinnen-Rating hinsichtlich Passung und Schwierigkeitsgrad überein?

Die zweite Fragestellung betrifft die Ermittlung von Entwicklungsschritten des Konstrukts MB sowie von Kompetenzniveaus. Die Forschungsfragen dazu lauten:

  • Lassen sich Unterschiede zwischen zwei Alterskohorten feststellen?
  • Lassen sich Unterschiede zwischen den Messzeitpunkten feststellen?
  • Welche Entwicklungsstufen (z.B. unterschiedliche Entwicklung einzelner Untertests) können aus den Ergebnissen der verschiedenen Alterskohorten beschrieben werden?

Vorgehen

Die Aufgaben zur morphologischen Bewusstheit wurden bereits in früheren Projekten erstellt und mit einzelnen Kindern durchgeführt sowie überarbeitet (Gafner, 2023; Gini, 2024). Darüber hinaus wurde ein Rating mit sechs Fachpersonen zu den Testaufgaben durchgeführt. Diese stimmten ab über die Passung der Aufgaben zum Konstrukt der MB sowie zu ihrer Einschätzung über den Schwierigkeitsgrad pro Alterskohorte. Es wurden aufgrund der Expertinneneinschätzung fünf Aufgaben ausgewählt, welche im vorliegenden Projekt verwendet werden.

Im Projekt werden Kindergartenkinder im Alter zwischen 4;06 und 7;06 Jahren zu zwei Zeitpunkten mit den Testaufgaben getestet. Diese werden in zwei Alterskohorten (AK) unterteilt. Die Kohorte 1 umfasst Kinder zwischen 4;06 und 5;10 Jahren (AK1 = 45jährige Kinder). Die zweite Kohorte beinhaltet die Kinder zwischen 5;11 und 7;06 Jahren (AK2 = 67jährige Kinder).

Erwartete Ergebnisse

Die Analyse der Daten soll einerseits aufzeigen, inwiefern die Einschätzung der Expertinnen mit den Resultaten der Kinder in den erstellten Aufgaben zur MB übereinstimmt. Andererseits wird untersucht, ob sich für die Untertests für die beiden AK verschiedene Schweregrade ergeben. Es wird erwartet, dass die AK1 in allen Untertests im Durchschnitt weniger Rohwertpunkte erzielt als die AK2. Jedoch können einzelne Untertests von diesem Ergebnis abweichen, wenn diese bereits in AK1 erfolgreich gemeistert werden. Überdies wird eine Leistungssteigerung in beiden AK zwischen Testzeitpunkt 1 und 2 erwartet. Da die Kinder im Abstand von mindestens 5 Monaten getestet werden, wäre ein Erinnerungseffekt ausgeschlossen. Die ersten Ergebnisse werden im Sommer 2025 erwartet.

Diskussion

In der Forschung wird die MB primär im Zusammenhang mit den Schriftsprachleistungen untersucht. Hierbei werden Testaufgaben zu unterschiedlichen Fähigkeiten wie die Flexion, Derivation und Komposition erstellt. Die Passung zum Konstrukt der MB wird dabei meist implizit angenommen. Auch die Entwicklungsreihenfolge der verschiedenen Kompetenzen ist bisher kaum Forschungsgegenstand. Diese Lücken möchte das vorliegende Projekt schliessen und Erkenntnisse zur konzeptuellen Entwicklung der Aufgaben sowie die empirische Überprüfung liefern. Diese werden im Rahmen der Aus- und Weiterbildung für die Praxis aufbereitet, vorgestellt und diskutiert. Ein mögliches Resultat wäre die nähere Beschreibung morphologischer Kompetenz einsprachiger Kinder im Kindergartenalter sowie die potenzielle Nutzung für Förderung und Therapie bei Kindern mit Schwierigkeiten.

Literatur

  • Brunner, M., Troost, J., Pfeiffer, B., Heinrich, C. & Pröschel, U. (2001). Heidelberger Vorschulscreening, zur auditiv-kinästethischen Wahrnehmung und Sprachverarbeitung, HVS. Westra.
  • Carlisle, J. F. (2003). Morphology matters in learning to read: A commentary. Reading Psychology, 24(3/4), 291. doi:10.1080/02702710390227369
  • Casalis, S., Colé, P., & Sopo, D. (2004). Morphological awareness in developmental dyslexia. Annals of
    Dyslexia, 54(1), 114–138. doi:10.1007/s11881-004-0006-z
  • Elbro, C., & Arnbak, E. (1996). The role of morpheme recognition and morphological awareness in
    dyslexia. Annals of Dyslexia, 46(1), 209–240. doi:10.1007/BF0264817
  • Ewald, S.-M. & Steinbrink, C. (2023). Die Rolle der morphologischen Bewusstheit für den frühen Schriftspracherwerb. Lernen und Lernstörungen, 12(3), 127–141. doi:10.1024/2235-0977/a000405
  • Gafner, S. (2023). Entwicklung eines Tests zur Erfassung der morphologischen Bewusstheit im 2. Kindergarten. https://zenodo.org/records/7898516
  • Grissemann, H., Baumberger, W., & Hollenweger, J. (1991). H-S-E-T. Heidelberger Sprachentwicklungstest. Schweizer Version, Verlag Hans Huber.
  • Gini, C. (2024). Überarbeitung und Evaluation eines Screenings zur morphologischen Bewusstheit im 2. Kindergartenjahr (SCREMOBE-2K) [Bachelorarbeit]. Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich.
  • Görgen, R., De Simone, E., Schulte-Körne, G., & Moll, K. (2021). Predictors of reading and spelling skills in German: The role of morphological awareness. Journal of Research in Reading, 44(1), 210–227. doi.org/10.1111/1467-9817.12343
  • Kargl, R., Wendtner, A., Purgstaller, C., & Fink, A. (2018). Der Einfluss der morphematischen Bewusstheit auf die Rechtschreibleistung. Lernen und Lernstörungen (1), 45–54. doi:10.1024/2235-0977/a000202
  • Schnitzler, C. (2008). Phonologische Bewusstheit und Schriftspracherwerb. Thieme E-Books & Journals.
  • Volkmer, S., Schulte-Körne, G., & Galuschka, K. (2019). Die Rolle der morphologischen Bewusstheit
    bei Lese- und Rechtschreibleistungen. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 47(4), 334–344. doi:10.1024/1422-4917/a000652