Die Schülerschaft an Sonderschulen für Lernende mit Körper- und Mehrfachbehinderungen in der Deutschschweiz

Kategorie Projekt

Ausgangslage und Ziele

Lernende mit primärer Beeinträchtigung in der körperlich-motorischen Entwicklung besuchen in der deutschsprachigen Schweiz vielfach Schulen für Körper- und Mehrfachbehinderte (kmE-Schulen). Die Lernenden an diesen Schulen zeichnen sich durch eine grosse Heterogenität und eine Vielzahl an zusätzlichen Beeinträchtigungen und Förderbedürfnissen aus.

Aus der Zusammenschau der (pädagogischen und therapeutischen) Bedarfe aller Lernenden an kmE-Schulen lässt sich ein Anforderungsprofil an sonderpädagogische Lehrpersonen für die Arbeit an diesen Schulen beschreiben.  

Des Weiteren untersucht die Studie Rahmenbedingungen an kmE-Schulen in Bezug auf Trägerschaft, Grösse und personelle Strukturen.

Projektleitung

Melanie Willke Titel Prof. Dr.

Funktion

Professorin für Bildung im Bereich körperlich-motorische Entwicklung und chronische Krankheiten

Susanne Schriber Titel Prof. em. Dr.

Funktion

Emeritiert/Pensioniert

Fakten

  • Dauer
    09.2020
    07.2021
  • Projektnummer
    3_30

Fragestellung

Im Forschungsprojekt wurde untersucht, wie sich die Schülerschaft an Schulen für Lernende mit Körper- und Mehrfachbehinderungen im deutschsprachigen Raum der Schweiz zusammensetzt und welche Förderbedarfe diese haben.

Die Schulen für Körper- und Mehrfachbehinderter wurden in Hinblick auf deren Grösse, Organisation und personellen Ressourcen untersucht.

Methodisches Vorgehen

Das Forschungsprojekt stellt eine Querschnittstudie dar, die die aktuelle Zusammensetzung der Schülerschaft an Schulen für Lernende mit Körper- und Mehrfachbehinderungen beschreibt. Die Stichprobe entspricht der Gesamtpopulation: Es wurden Daten der gesamten Schülerschaft an Sonderschulen für Körper- und Mehrfachbehinderte in der Deutschschweiz erhoben.

Der Zeitpunkt der Datenerhebung war der Januar 2021.

Als Erhebungsinstrument wurden zwei elektronischer Fragebogen (LimeSurvey) genutzt. Erfasst wurden für die Lernenden die vorrangige Behinderungsform und weitere Beeinträchtigungen (primäre und sekundäre Beeinträchtigungen), Lerngruppenzugehörigkeit (Lernziele Lehrplan bzw. individuell), Therapien, Förderbedarf Sprache (Deutsch als Zweitsprache, Unterstützte Kommunikation), weiterer Förderbedarf (z.B. Verhalten) und ob bei den Lernenden eine schwere und mehrfache Beeinträchtigung vorliegt. Ausgefüllt wurde der Fragebogen von den jeweiligen Klassenlehrpersonen.

Die Schulleitungen erhielten einen separaten Fragebogen mit Fragen zur Anzahl der Lernenden und Klassen sowie zur personellen Besetzung (Mitarbeiter:innen (Sonder-)Pädagogik und Therapie).

Mit Hilfe des Statistikprogramms SPSS wurden deskriptivstatistische Masse berechnet.

Ergebnisse

Die folgenden Ergebnisse zeigen im Sinne einer knappen Zusammenfassung Brennpunkte, denen kurze Schlussfolgerungen als Fazit für die Lehre und Forschung nachgestellt werden.

Förderschulen und Integrationen  

Alle Sonderschulen begleiten im Grundsatz auch Integrationen bzw. haben der Schule eine Fachstelle Integration angegliedert. Mehr als 50% aller Lernenden mit Beeinträchtigungen der körperlich-motorische Entwicklung sind in der Integration. Fazit: Die Qualität der Integrationen von Lernenden mit dem Förderbedarf kmE ist besonders zu beachten, weiterführende Studien zu diesem Bereich drängen sich auf. 

(Sonder-)Pädagogische Fachpersonen 

71% aller diplomierten Lehrpersonen verfügen über einen Abschluss in Schulischer Heilpädagogik. Auf 100 Stellenprozente Schulische Heilpädagog:innen fallen 186 Stellenprozente Pädagogische Mitarbeiter:innen. Fazit: In der Ausbildung ist die Intradisziplinarität besonders zu beachten. 

Therapiefachpersonen 

Auf rund 3,5 Lehrpersonen entfällt an den kmE-Schule 1 Fachperson Therapie. Die häufigsten Therapiestellen sind Physio- und Ergotherapie, gefolgt von Logopädie, die wohl als Folge von schweren mehrfachen Beeinträchtigungen und Massnahmen der Unterstützten Kommunikation an Bedeutung gewonnen hat. Fazit: Dem interdisziplinären Austausch ist in der Ausbildung viel Beachtung zu schenken, da dieser in der Praxis von grosser Bedeutung ist. 

Primäre Beeinträchtigungen 

Rund zwei Drittel aller Lernenden haben einen primären Förderbedarf im Bereich der körperlich-motorischen Entwicklung. Beim dritten Drittel werden unterschiedliche Bedarfe genannt. 

Nach wie vor sind Lernende mit Zerebralparese die grösste Gruppe innerhalb der Lernenden mit einem Förderbedarf mit körperlich-motorischer Entwicklung, dies nahezu 50%. Fazit: Fachkenntnisse zu Zerebralparese müssen in der Ausbildung einen hohen Stellenwert erhalten. 

Schwere mehrfache Beeinträchtigungen 

Rund ein Drittel aller Lernenden werden von den Lehrpersonen als schwer mehrfach beeinträchtigt bezeichnet. Entsprechend weist sich bei dieser Gruppe ein deutlich erhöhter Pflegebedarf aus. Fazit: Kompetenzen im Bereich der Förderung und Pflege von Lernenden mit schweren mehrfachen Beeinträchtigungen müssen Teil eines Curriculums Schulischer Heilpädagog:innen sein. 

Lernende mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) 

Bei nahezu 20% aller Lernenden der kmE-Schulen wurde laut Lehrpersonen eine Autismus-Spektrum-Störung (ASS) diagnostiziert bzw. wird diese vermutet. Für ca. 10% aller Lernenden wird ASS als primäre Beeinträchtigung genannt. Fazit: Die gemeinsame Beschulung von Lernenden mit körperlich-motorischen Beeinträchtigungen und Autismus-Spektrum-Störungen sowie weiteren Beeinträchtigungen der emotional-sozialen Entwicklung müssen in Lehre und Forschung besondere Beachtung erhalten 

Lernende mit Förderbedarf emotional-soziale Entwicklung  

Für nahezu drei Viertel aller Lernenden werden Auffälligkeiten im Verhalten bzw. in der emotional-sozialen Entwicklung genannt. Fazit: Für die Praxis bedeutet dieses Faktum, dass Sonderpädagog:innen mit Profil kmE im Bereich des Umgangs mit herausforderndem Verhalten und der Förderung im emotional-sozialen Bereich fitgemacht werden müssen. Ein Forschungsbeitrag könnte darin bestehen, zu untersuchen, welcher Art die Herausforderungen und Formen im Bereich des Verhaltens bzw. der sozial-emotionalen Entwicklung sind. 

Kommunikation, Unterstützte Kommunikation, Assistive Technologien 

Drei Viertel aller Lernenden haben laut Lehrpersonen eine kognitive Beeinträchtigung, mehr als zwei Drittel eine Beeinträchtigung im Entwicklungsbereich der Sprache und Kommunikation. Bei mehr als der Hälfte der Lernenden werden Massnahmen der Unterstützten Kommunikation genannt. Zunehmend an Bedeutung gewinnen im Fachbereich assistive Technologien. Fazit: Kompetenzen im Bereich der Unterstützten Kommunikation und in einem erweiterten Sinne der Assistiven Technologien sind für sonderpädagogische Fachpersonen mit Profil kmE unabdingbar. 

Zusätzlicher Bedarf in verschiedenen Lebensbereichen 

Zwei Drittel aller Lernenden haben Wahrnehmungsbeeinträchtigungen unterschiedlichen Schweregrades. Nahezu 50 % aller Lernenden haben in unterschiedlichem Grad eine Sehbeeinträchtigung. Zwei Drittel der Lernenden haben Auffälligkeiten im Bereich der emotional-sozialen Entwicklung, vier Fünftel haben Schwierigkeiten im Bereich der exekutiven Funktionen. Die Kompetenzen in den Kulturtechniken Mathematik und Sprache fallen höchst heterogen aus. Fazit: Körperlich-motorische Beeinträchtigungen treten mehrheitlich in Verbindung mit weiteren Erschwernissen in verschiedenen Entwicklungsbereichen auf. Unterschiedliche Formen der Lernbeeinträchtigungen bzw. der Lernunterstützung und der Differenzierung von Lernangeboten und der inklusiven Didaktik haben an kmE-Schulen einen sehr hohen Stellenwert, entsprechende Kompetenzen müssen bei den sonderpädagogischen Lehrpersonen gefördert werden. 

Besondere Ressourcen 

Nach besonderen Fähigkeiten der Lernenden befragt, nennen Lehrpersonen selten Ressourcen in den Fächern Mathematik sowie den MINT-Fächern. Rund einem Drittel aller Lernenden werden als besondere Ressourcen überfachliche Kompetenzen (personale, soziale und methodische Kompetenzen) zugesprochen. Fazit: Zu prüfen ist, ob Kompetenzen im Bereich der Mathematik und der MINT-Fächer vermehrt in den Blick der Ausbildungsgänge und Forschung genommen werden müssen.

Kurzpräsentation. Die wichtigsten Ergebnisse der Studie werden zusammenfassend im Video vorgestellt. Zum Video (SWITCH)

Literatur

  • Baumann, T., Dierauer, S., Meyer-Heim, A., Ballhausen, D., Berweck, S., Besmens, I. S. et al. (Hrsg.). (2018). Zerebralparese: Diagnose, Therapie und multidisziplinäres Management: 511 Abbildungen. Stuttgart New York: Georg Thieme Verlag.
  • Bundesamt für Statistik (2021). Obligatorische Schule: Lernende nach Bildungstyp, Geschlecht und Staatsangehörigkeit. Online: [letzter Aufruf: 20.08.21]
  • Canonica, C., Eckert, A., Ullrich, K. & Markowetz, R. (2018). Herausforderungen im Schulalltag mit Lernenden mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS) aus Sicht von Lehrpersonen. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, 87(3), 232–247.
  • Deutschschweizer Erziehungsdirektoren-Konferenz (D-EDK). Lehrplan 21. Gesamtausgabe. Online: https://v-fe.lehrplan.ch/container/V_FE_DE_Gesamtausgabe.pdf [letzter Aufruf: 06.09.21]
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  • Hansen, G. (2015). Grundwissen Cerebrale Bewegungsstörungen im Kindes- und Jugendalter. Düsseldorf: verlag selbstbestimmtes leben.
  • Hansen, G. & Wunderer, S. (2010). Aktuelle Daten zur Beschreibung der Zusammensetzung der Schülerschaft an Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung in Nordrhein-Westfalen. Köln: Universität zu Köln.
  • Henriksen, A. & Laemers, F. (2016). Funktionales Sehen: Diagnostik und Interventionen bei Beeinträchtigungen des Sehens. Würzburg: Edition Bentheim.
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  • Kummer Wyss, A. (2012). Das sonderpädagogische Grundangebot in der Deutschschweiz. Luzern: PHZ Luzern.
  • Lanfranchi, A. (2013). «Passung» zwischen Migrationsfamilien und Schule. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, (2), 5–11.
  • Lelgemann, R. & Fries, A. (2009). Die Entwicklung der Schülerschaft an Förderzentren körperliche und motorische Entwicklung in Bayern. Ergebnisse einer Längsschnittuntersuchung und weitere Untersuchungen in den Jahren 2004 bis 2008, Zeitschrift für Heilpädagogik 60, 213-223.
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  • Schriber, S. (2007). Kinder und Jugendliche mit Körper- und Mehrfachbehinderungen.  Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, (11–12), 36–42.
  • Schriber, S. (2010). Mit dem Rollstuhl durch die Baustelle «Schule für alle». In Jennessen, Sven, R. Lelgemann, B. Ortland & M. Schlüter (Hrsg.), Leben mit Körperbehinderung. Perspektiven der Inklusion (S. 107–119). Stuttgart: Kohlammer.
  • Schriber, S. & Schwere, A. (Hrsg.). (2012). Spannungsfeld schulische Integration: Impulse aus der Körperbehindertenpädagogik (2. unveränd. Aufl.). Bern: SZH/CSPS-Ed.
  • Wagner, M. (2013). Sind sie der Rest? Kinder und Jugendliche mit schwerer Behinderung in einem inklusiven Schulsystem. Zeitschrift für Heilpädagogik, 64(12), 496–501.

Publikationen

  • Willke, M., & Schriber, S.
    (2022).
    Emotional-soziale trifft körperlich-motorische Beeinträchtigung: Welche Beeinträchtigungen haben Lernende an Schulen für Kinder mit Körper- und Mehrfachbehinderungen?
    Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik,
    28
    (1–2),
    51–57.
  • Willke, M., & Schriber, S.
    Schülerschaft an ​Deutschschweizer Sonderschulen kmE.
    Forschungskolloquium, Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik,
    Zürich, Schweiz.