Die Vermessung der Gebärdensprache
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Wer im fremdsprachigen Ausland nach dem Weg fragt, kann sich mit einfachsten Sprachkenntnissen verständigen. Im gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprache (GER) entspricht das A1, der tiefsten Stufe der Sprachniveaus. Will man sich hingegen zu einem breiten Themenspektrum klar und detailliert ausdrücken können, erfordert dies fortgeschrittene Kenntnisse auf Stufe C2.
Im Gegensatz zur Lautsprache fehlen in der Gebärdensprache ein solcher Rahmen und damit verbundene Tests zur Beurteilung der Sprachkompetenzen. Die Unterschiede beginnen dabei bereits auf der Basis: «Für Englischtests zum Beispiel gibt es Listen mit den häufigsten Wörtern, das haben wir für die Gebärdensprache nicht», sagt Tobias Haug von der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH). «Es gibt zwar ein Lexikon, es gibt eine Forschungsdatenbank, aber wir haben nicht per Klick eine Liste von Gebärden, die eine Person auf Stufe A1 beherrschen müsste.» Und selbst wenn eine solche Liste vorhanden wäre, müsste man im Rahmen testtheoretischer Verfahren noch festlegen, was richtig und falsch sei: Wie weit müssen beispielsweise der Daumen und der kleine Finger abgespreizt werden, um «telefonieren» zu gebärden? Wie nahe muss die Hand dabei ans Ohr? Und wird gleichzeitig der Kopf geneigt? Um diese Lücken zu schliessen, beschäftigt sich Tobias Haug als einer von etwa zehn Forschenden weltweit mit der Entwicklung von Testverfahren, mit denen untersucht werden kann, wie gut jemand die Gebärdensprache beherrscht. Ein anspruchsvolles Unterfangen, wie der Professor für Gebärdensprache und Partizipation bei Hörbehinderung im Rahmen seiner Antrittsvorlesung «Ist A1 eins a? Zur Überprüfung von Gebärdensprachkompetenz» vom 24. September 2020 ausführte, die er in Gebärdensprache hielt.
Welches die grössten Herausforderungen sind, erläutert er im folgenden Video-Interview.
Was auf den ersten Blick wie ein Nischenthema scheint, ist keines: Allein in der Schweiz gelten rund 600'000 Personen als hörbehindert, 10'000 Personen sind vollständig gehörlos. Die HfH trägt diesem Umstand Rechnung und hat für diesen Themenbereich eine Professorenstelle errichtet. Tobias Haug verfolgt dabei nicht nur die Entwicklung eines Testverfahrens zur Überprüfung der Gebärdensprachkompetenz.
Ein weiterer Fokus seiner Forschung liegt auf dem Gebärdensprachdolmetschen: «Mich interessiert etwa die Frage, warum Dolmetscher*innen, also Hörende, lieber von der Lautsprache in die Gebärdensprache übersetzen als umgekehrt», sagt Haug. Nicht zuletzt sind neue Technologien ein zentrales Thema. In jüngster Zeit habe vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie das Fern-Dolmetschen an Wichtigkeit gewonnen, sagt Tobias Haug. Vor allem aber verweist er auf das laufende Forschungsprojekt SMILE, in dem in den letzten Jahren ein computergestütztes Testsystem für ein einfaches Vokabular entwickelt wurde: «Wir möchten die automatische Erkennung von Gebärden in den nächsten Jahren substantiell weiterentwickeln», sagt Tobias Haug. Die Vorzeichen stehen gut: Der Schweizerische Nationalfonds (SNF) hat gerade kürzlich ein entsprechendes Forschungsgesuch von Haug und seinem Team bewilligt.
Autoren: Steff Aellig, Dr., und Dominik Gyseler, Dr., Wissenschaftskommunikation HfH