Es ist ok, wenn's mal knirscht!
Reportage
Brigitte Portmann hat langjährige Leitungserfahrung in Sonderschulinstitutionen. Sie ist überzeugt: Kooperation darf nicht Selbstzweck sein, sondern muss der Qualität der Förderung dienen. Damit Kooperation gelingt, braucht es von Seiten Schulleitung vor allem eines: Präsenz.
Bessere Lösungen. «In verschiedenen Situationen wäre es vermutlich effizienter, wenn man die Arbeit alleine machen würde», sagt Brigitte Portmann. Für die HfH-Dozentin ist klar: «Kooperation einfach um der Kooperation willen macht wenig Sinn». Doch im pädagogischen Arbeitsfeld sind viele Situationen so komplex, dass sie nicht alleine bewältigt werden können. «Erst in der Zusammenarbeit kommt verschiedenes Wissen zusammen und entstehen durchdachtere, bessere Lösungen.» Um als Schulleitung eine solche Kultur aufzubauen, braucht es viel Austausch. «Das Wozu muss geklärt sein!», ist die ehemalige Leiterin von Sonderschulinstitutionen überzeugt. Aktuell ist sie Senior Lecturer im Institut für Professionalisierung und Systementwicklung und arbeitet im Projekt «Zusammenarbeit an Schulen – inklusionsorientiert und multiprofessionell (ZaS)» mit.
Die Zusammenarbeit muss fundiert besprochen werden, nicht nur organisatorisch. Es geht um die Klärung von Werten und Zielen, das Sichtbarmachen des vorhandenen Wissens im Team und die gemeinsame Lösungssuche. In dieser Auseinandersetzung muss die Schulleitung eine hohe Präsenz zeigen, sagt Brigitte Portmann: «Diese Prozesse gehen nicht überall reibungslos. Es ist auch ok, wenn’s mal knirscht!» Als Schulleitung muss man sich getrauen, Wahrnehmungen früh anzusprechen und Konflikte zum Thema zu machen. «Bei gelingender Kooperation wachsen einzelne Mitarbeitenden über sich hinaus und es entstehen bessere Leistungen als durch viel harte Arbeit Einzelner», ist die HfH-Dozentin überzeugt.
Im Gespräch mit Steff Aellig erklärt Brigitte Portmann, wie sie als Schulleiterin die Balance zwischen Struktur und Autonomie in ihrem Schulteam angestrebt hat.
Interview mit Brigitte Portmann: Transkript
Steff Aellig: «Brigitte Portmann, Kooperation ist ein hochgepriesenes Schlagwort. Aus deiner Erfahrung als Sonderschulleiterin heraus: Wäre es nicht einfacher und effizienter, alleine zu arbeiten?»
Brigitte Portmann: «Es kann sein, dass es sogar effizienter erlebt würde. Ich kann selber einteilen, ich habe viel Autonomie. Aber die Resultate sind besser, wenn du zusammenarbeitest.»
Steff Aellig: «Woran erkennt man das?»
Brigitte Portmann: «Indem verschiedenes Wissen zusammenkommt und wirklich Lösungen entstehen, die einer alleine gar nicht hätte ausdenken können. Gerade der Umgang mit herausforderndem Verhalten bedingt hohe Präsenz aller. Und auch da: Dieses Reagieren auf die schwierigen Situationen ist nur möglich, wenn ich weiss, ich lass dann nicht meine Klasse alleine, sondern da ist noch jemand da, und der weiss, wie er übernehmen kann.»
Steff Aellig: «Hast du gerade ein Beispiel aus deiner Erfahrung als Sonderschulleiterin?»
Brigitte Portmann: «Also ich erinnere mich an einen Oberstufenschüler, der hat wie ein Seismograf reagiert auf Spannungen im Team zum Beispiel, oder auf ungeplante Situationen. Also, wenn die Erwachsenen nicht klar waren, was sie jetzt von ihm wollen, dann konnte es gut sein, dass er totale Verweigerung gemacht hat, bis hin zu Sachen herumwerfen oder Tische umwerfen, Stühle umwerfen. Und da stand einem ein 1.70m-Junge vis-à-vis. Da kommst du nicht alleine klar, das zu regeln. Da musst du sehr schnell entscheiden: Bleiben wir in diesem Raum mit ihm, und die anderen gehen raus, oder umgekehrt? Dann: Wie bringen wir ihn raus? Und da ging es sogar so weit, dass man wirklich die Abmachung getroffen hat: Wir führen ihn raus in ein Zimmer, wo er sich beruhigen kann, in Absprache mit den Eltern wird das umgesetzt, aber immer nur zu zweit. Dass wir von beiden Seiten stützen können, dass wir von beiden Seiten Halt geben und viel Kontakt. Nicht im Sinne von: «Wir packen dich und schleifen dich raus!», sondern im Sinne von: «Du musst das nicht alleine schaffen. Wir wissen, es ist gerade schwierig für dich, wir helfen dir.»
Steff Aellig: «Und wie bringt man jetzt von Seiten der Leitung eine solche Kooperationskultur in ein Schulteam rein?»
Brigitte Portmann: «Viel Austausch. Und dieses Wozu muss geklärt sein. Also, es muss klar sein, dass es nicht darum geht, einen Konkurrenzkampf aufzugleisen: Welches Team hat das im Griff und welches nicht? Sondern klarzustellen, dass das eine gemeinsame Aufgabe ist, dass alle ihre Aufgaben schaffen.
Steff Aellig: «Und wie macht man das ganz konkret?
Brigitte Portmann: «Ganz konkret wirklich über dieses zusammen Schauen: Was ist uns wichtig? Und Vereinbarungen treffen, und diese auch immer wieder überprüfen. Also nicht Strukturen herstellen, die dann immer so sind, sondern wenn sich zeigt, irgendwo klappt es nicht: Gemeinsam Lösungen suchen. Nicht nur mit dieser Person oder diesen drei Personen in diesem Schulzimmer, sondern: Welche Unterstützung kann die Klasse, die Parallelklasse oder die Klasse auf dem gleichen Stock leisten? Was ist möglich an Unterstützung von Seiten Therapie, auch wenn die einen anderen Auftrag haben in dieser Zeit? Wenn Notfall ist: Was können die leisten, was nicht? Das andere ist: Saubere Abmachungen für Vorgehen.
Steff Aellig: «Zum Beispiel?»
Brigitte Portmann: «Zum Beispiel wenn ein Kind davonläuft. Das löst Panik aus bei der Person, die das Gefühl hat, ich hätte es sehen müssen. Und wenn die einfach zuerst eine halbe Stunde durchs Haus rennt, panisch, ohne jemandem Bescheid zu geben, ist das Kind ziemlich weit weg. Da gibt es einen Notfallplan, wo nicht mehr überlegt werden muss, sondern sehr schnell reagiert wird mit Alarmieren. Wer hilft suchen? Wo sichern wir Ausgänge, zum Beispiel? Und das kriegst du nicht alleine hin. Also, wenn du fünf Ausgänge vom Gelände absuchen musst, und erst von da aus dann in die Suche gehst nach innen. Wenn klar ist, die Schulleitung macht die Meldung zur Polizei, so oder so nach zehn Minuten, dann sind die Aufgaben sauber verteilt, und es gibt Ruhe in solchen Situationen.»
Steff Aellig: «Jetzt gibt es ja Klassen-Teams, die hervorragend funktionieren, und es gibt andere. Was machst du als Leitungsperson mit diesen anderen?»
Brigitte Portmann: «Ich leiste Präsenz für ihre Themen. Also, ich schaue, dass ich früh reagiere, nicht, wenn jemand schon am Punkt ist, wo er findet: Es geht gar nicht mehr, ich kündige. Also, ich schaue wirklich aufmerksam auf Zeichen, dass da etwas nicht geigt, oder dass es irgendwo knirscht im Gebälk. Und spreche diese Beobachtungen auch an. Also es geht einerseits um Früherkennung im Sinne von: Irgendwie scheint es mir, dass… Oder: Mir fällt auf, dass… Also, diese Beobachtungen anzusprechen.
Steff Aellig: «Und wie erkennst du das? Welche Situationen geben dir Zeichen?»
Brigitte Portmann: «Zum Beispiel, wenn mir drei Personen aus dem Team das Gleiche erzählen kommen. Also jede kommt direkt zu mir, anstatt dass sie zuerst gemeinsam besprechen, bevor sie zur Schulleitung gehen. Dann halten sie die Abläufe wie nicht ein, oder? Also, sie schauen nicht gemeinsam nach Lösungen. Sie wollen gleich gerettet werden von der Leitung. Das ist für mich so ein Zeichen: Hey, Stopp! Was wären noch die Möglichkeiten, die ihr untereinander habt, bevor die Schulleitung hier involviert wird? Also das unterstützen, um Feedback zu geben, oder um auch Unbehagen anzusprechen. Zum Teil ist man unglaublich nett miteinander – vorne herum. Und diese Klarheit zu schaffen: Es ist okay, wenn es mal knirscht. Und es ist okay, einen Konflikt auszutragen. Das braucht zum Teil wirklich Unterstützung. Das getrauen sich nicht alle gleich. Umgekehrt aber auch wenn ich jemanden höre, der so richtig, ich sag mal auf den Tisch haut, darauf zu schauen, dass da keine Verletzungen passieren. Oder zu mahnen: Man könnte auch, bevor man explodiert, schon mal ansprechen. Auf solche Beobachtungen reagieren braucht Präsenz.
Steff Aellig: «Und wie bringst du es als Leitung hin, dass die einzelnen Klassenteams auch fürs ganze Schulteam denken? Ist das nicht eine große Herausforderung?»
Brigitte Portmann: «Also, ich glaube das eine ist, dass du als Schulleitung einfach selber daran glaubst, dass Menschen Besseres leisten und dieses entspannter leisten, wenn sie zusammenarbeiten. Das heißt, ich hoffe, dass du es selber schon mal erlebt hast, dass du über dich hinauswächst, weil in der Zusammenarbeit Besseres entsteht als alleine. Ich glaube, die Rollen müssen gut geklärt sein. Und ich fordere die Zusammenarbeit ein, dort wo es auch der Sache dienlich ist, also wo es sinnvoll ist, wo es mit den Zielen zusammenhängt. Also keine Zusammenarbeit als Selbstzweck, nichts Schlimmeres, als vergeudete Sitzungszeit. Absitzen, weil man halt muss. Und das braucht wirklich so ein, ich denke, eine Balance oder eine gute Mischung zwischen Einfordern, dass diese Gefässe gelten und dass die eingehalten werden und gleichzeitig aber auch ähm, nicht in die Länge ziehen oder nicht durchführen, wenn es nichts zu besprechen gibt. Oder eben klarstellen: Es macht keinen Sinn, übers Jahr verteilt die Intervisions-Termine schon zu setzen. Intervision braucht es dann, wenn jemand kommt und sagt: «Ich brauche jetzt Schwarmwissen vom ganzen Team!» Und dann organisieren wir das. Das ist ein Zusatzaufwand, aber sie gewöhnen sich schnell dran, wenn’s was bringt. Es braucht aber trotzdem diese Struktur von Zusammenarbeit, die verbindlich ist, damit nicht so viel Energie verloren geht. Einerseits mit der Terminsuche, also wie organisieren wir uns? Wer muss jetzt am Freitag kommen? Zum Beispiel. Und das andere ist aber auch: Diese Präsenzzeit müssen Sie selber auch gestalten können.»
Steff Aellig: «Deiner Erfahrung nach: Was ist der goldene Mittelweg zwischen Struktur und Autonomie?»
Brigitte Portmann: «Die Lösung, die wir gemeinsam erarbeiten. Also, ich habe nie die Struktur durchgesetzt, weil ich die so wollte und so entschieden habe. Sondern, das war immer ein Entscheid in der Steuergruppe. Das war immer ein Entscheid gemeinsam, häufig basierend auf einer Evaluation oder Umfrage, oder Bedürfniserhebung. Nicht Dauerveränderung. Das ermüdet. Aber regelmässig auch wieder hinschauen: Macht das Sinn? Oder halt wirklich Herausforderungen gemeinsam… Also gemeinsam auf diese Lösungssuche zu gehen?»
Steff Aellig: «Wagst du einen Blick in die Regelschule? Dort findet ja die Kooperation viel mehr auf Augenhöhe statt. Und – so wird berichtet – läuft oft problematisch.»
Brigitte Portmann: «Ich wage den Blick, weil wir sehr viele Integrationen begleitet haben. Und da hat sich gezeigt: Das ist das Hauptthema, eigentlich. Wie sollen wir das schaffen? Wie sollen wir zusammenarbeiten? Wann sehen wir uns? Häufig auch dieses: Das ist ein Zusatzaufwand. Das haben wir oft ghört. Also ich glaube, das eine ist – es ändert sich inzwischen auch, dass Lehrpersonen immer mehr Führungsaufgaben haben, weil auch viel Assistenz im Einsatz ist inzwischen. Es ist nicht mehr immer auf Augenhöhe. Zudem hat der heilpädagogische Beruf lange auch so eine Dienstleistungsmentalität gehabt. Also die Heilpädagogin kommt dort helfen, wo das Regelwerk nicht reicht, unter die regelpädagogische Arbeit. Und da wurde wie zu gedient. Damit die Klassen gut in der Klassenführung bleiben kann, wurde zu gedient.
Steff Aellig: «Also höre ich da einen kritischen Unterton heraus.»
Brigitte Portmann: «Ja… Das macht zum Teil sogar Sinn. Also ich finde es wichtig, dass die Lehrpersonen gestärkt sind in der Klassenführung. Aber es darf nicht dazu kommen, dass es als Hierarchie gelebt wird im Sinne von: Die Klassenlehrperson delegiert Aufgaben an die Heilpädagogin. Die Heilpädagogin hat einen anderen Auftrag. Die schauen gemeinsam: Was macht Sinn, wie organisieren wir uns? Das darf auch delegiert sein, zum Teil, oder aufgeteilt. Aber da sehe ich wirklich eher auf Augenhöhe. Bei Assistenz muss man sich neu arrangieren.»
Steff Aellig: «Und wie kann man diese Situationen weiterentwickeln jetzt? Was wäre zu tun?»
Brigitte Portmann: «Ich glaube wirklich: Die Zeit und den Raum einplanen, planen um die Zusammenarbeit zu besprechen und zu klären. Also das kennt man von verschiedenen Schulen mit diesen Vereinbarungen. Und die sind mir noch zu häufig nur organisatorisch. Wann treffen wir uns für die Besprechung? Wer macht was? Wann kriege ich das Mail mit den Themen von nächster Woche? Irgendwie so was. Das reicht nicht. Es braucht die Besprechung von: Was ist unser Hauptanliegen? Oder: Welche Werte wollen wir gelebt haben in diesem Schulzimmer? Dann müssen wir nicht jeden Handgriff absprechen, wenn wir die Richtung geklärt haben. Wenn wir wissen, das ist ein gemeinsames Anliegen. Und da zeigen wir auch den Kindern gegenüber: «Hey, egal, ob du mit mir verhandelst oder mit der Heilpädagogin – das gilt!»
Steff Aellig: «Und die Rolle der Schulleitung?»
Brigitte Portmann: «Gute Hilfen anbieten. Gemeinsam erarbeitete gute Hilfen im Idealfall. Es bleibt dynamisch. Du hast nicht diese festen Schiffe mit ihrer Mannschaft, die seit zehn Jahren Hand in Hand in die Welt raussegelt. Da hast du jährlich, halbjährlich hast du neue Leute in dieser Crew. Du hast immer wieder auch Anpassungen: Größe des Schiffes, Ausrichtung, Tempo. Und da wirklich zu schauen, dass die Zielrichtung für alle klar ist, und dass aber Dynamik nicht: «Ahhh, schon wieder ein Wechsel…». Sondern im Sinne von: Das gehört zum Leben. Die Veränderung gehört dazu. Wir schauen, dass es sich nicht so auswirkt, dass alle gehemmt sind. Wir leben schneller, und bei jedem von uns verändert sich auch das Leben.»
Steff Aellig: «Das ist so. Und besonders schön, wenn die Schulleitung diese Veränderungen aufnehmen und die Kooperationen entsprechend gestalten kann.»
Brigitte Portmann: «Ganz herzlichen Dank für das Gespräch.»
Brigitte Portmann war langjährige Schulleiterin in Sonderinstitutionen. Mit Steff Aellig (Wissenschaftskommunikation) spricht sie über Kooperation in Schulteams.
Brigitte Portmann mit ihrem aktuellen Lieblingsbuch, welches Zusammenarbeit gut nachvollziehbar illustriert.
Buchtipp. Krogerus und Tschäppeler (2022). Zusammenarbeiten – Ein Wegweiser, um gemeinsam Grosses zu erreichen. Verlag Kein und Aber. Zürich. Zum Shop
Autoren: Steff Aellig und Dominik Gyseler, HfH-Wissenschaftskommunikation (Mai 2023)
Links
- Projekt
Zusammenarbeit an Schulen – inklusionsorientiert und multiprofessionell
- Hochschulmagazin
«heilpädagogik aktuell», Nr. 38, Kooperation fassbar machen