Ein Lehrplan für alle, wirklich alle
Tagungsrückblick
Kürzlich wurde die «Anwendung des Lehrplans 21» für Lernende mit kognitiven und komplexen Beeinträchtigungen verabschiedet. Es ist ein Meilenstein. Doch an der Tagung «Bildungsplanung bei kognitiver Beeinträchtigung» wurde klar: Die Umsetzung in den Schulen und Kantonen gleicht einer Expedition, für die es Pioniergeist und Mut braucht.
Meilenstein der Inklusion. Carlo Wolfisberg ordnet zu Beginn der Tagung gleich ein, wie wichtig die Anwendung des Lehrplans 21 für Schüler mit komplexen Behinderungen in Sonder- und Regelschulen ist: «Es ist ein Meilenstein auf dem Weg zur Inklusion.» Dazu unterscheidet der HfH-Institutsleiter und Historiker vier Etappen auf dem Weg zu einer Bildung für alle. In einer ersten Phase dispensierte man Kinder mit kognitiver Beeinträchtigung einfach vom Unterricht. In einem zweiten Schritt wurden vereinzelt institutionelle Angebote eingerichtet. In einer dritten Phase, das war in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wurden die Bildungsangebote auf alle Kinder ausgerichtet – ohne allerdings ein tragfähiges Konzept dafür zu haben. «Erst in der jüngsten und vierten Phase hat man es endlich geschafft, einen Lehrplan für alle, wirklich alle zu konzipieren», so Carlo Wolfisberg. «Und zwar einen, der im pädagogischen Alltag in integrativen und separativen Settings handlungsleitend ist.»
Wozu-Frage. Judith Hollenweger Haskell von der Pädagogischen Hochschule Zürich war zusammen mit Ariane Bühler von der HfH federführend in dieser Konzeption. «Entscheidend ist bei allen Bildungsangeboten die Frage: Wozu ist es gut?», sagt Hollenweger. Es geht also um den Nutzen für das Kind. Dabei sind nicht kurzfristige Entwicklungsschritte und Förderziele handlungsleitend, sondern vielmehr langfristige Visionen: «Kinder mit kognitiven Beeinträchtigungen sollen in der Gesellschaft teilhaben können», so Hollenweger. Das ist der Leuchtturm. Was also brauchen Kinder mit kognitiven Beeinträchtigungen und komplexen Behinderungen heute in der Schule, um morgen ein Teil der Gesellschaft sein zu können? Hier kommt das Konzept der Befähigung ins Spiel. Der Bildungsauftrag der Schule ist laut Hollenweger und Bühler nämlich dann erfüllt, wenn diese Kinder in sechs Bereichen befähigt werden – so etwa sich und andere anerkennen, sich austauschen und dazugehören oder dranbleiben und bewältigen.
Zukunftsvision. Ein Knackpunkt ist die gemeinsame Entwicklung einer Zukunftsvision. «Das ist ein spannender, aber herausfordernder Prozess», sagt Cornelia Müller Bösch. Die HfH-Professorin muss es wissen: Sie hat zwanzig Jahre lang Lernende mit kognitiver Beeinträchtigung auf diesem Weg begleitet und sie dabei unterstützt, eine solche Vision zu verwirklichen. Einer dieser Personen mit einem Handicap ist Lucien Le – ein «Experte in eigener Sache», wie Müller Bösch es nennt. Nachdem er erfolgreich das Studium an der Pädagogischen Hochschule Zürich am Institut Unterstrass im Projekt écolsiv absolviert hat, arbeitet er heute als Assistent mit pädagogischem Profil an einer Primarschule. «Ich mache zum Beispiel Lesetraining», gibt er Einblick in seinen Berufsalltag. «Dazu gehe ich mit einer kleinen Gruppe von Kindern eine Viertelstunde aus dem Klassenzimmer, lese ihnen zwei Seiten vor, höre zu, gebe Tipps.» Doch von Anfang an: Was braucht es für so eine Erfolgsgeschichte? Dies erzählen Cornelia Müller Bösch und Lucien Le im folgenden Video-Interview.
Lucien Le und Cornelia Müller Bösch im Gespräch über Zukunftsvisionen.
Expedition mit Pioniergeist. Was bei Lucien Le funktioniert hat, soll künftig bei vielen anderen Menschen mit einem Handicap Schule machen. Ariane Bühler begleitet Schulen und Kantone auf diesem Weg. «Ich vergleiche das gerne mit einer Expedition», beschreibt es die HfH-Dozentin. Es brauche Pioniergeist und mutige Personen, die vorauseilen und vorausdenken, um dieses Neuland zu erkunden. Vor vier Jahren haben 19 Kantone und das Fürstentum Liechtenstein die Anwendung des Lehrplans 21 verabschiedet. Eine solch breit abgestützte Umsetzung sei wichtig, sagt Bühler: «So verfügen wir über eine gemeinsame Sprache, wie man die Vision der Befähigung aller Schüler umsetzen kann.» Wie sie den Zwischenstand einschätzt und welche Tipps sie Schulen auf deren Weg mitgeben würde, erzählt sie im folgenden Video-Interview.
Ariane Bühler im Gespräch über Bildungsplanung.
Die Tagung «Bildungsplanung bei kognitiver Beeinträchtigung» fand am 3. Juni 2023 an der HfH und online statt. Sie war ein Anlass des Instituts für Behinderung und Partizipation und wurde von Prof. Cornelia Müller Bösch und Ariane Bühler geleitet.
Autoren: Steff Aellig, Dr., und Dominik Gyseler, Dr., HfH-Wissenschaftskommunikation, Juni 2023
Weiterbildung. Der nächste CAS «Bildungsplanung bei komplexer Behinderung» startet im August 2024. Weitere Informationen erhalten Sie im Weiterbildungsplaner. Zum CAS
Reportage. Der Unterricht für Kinder mit komplexen Behinderungen muss so gestaltet werden, dass sie lernen können. Entscheidend ist die Frage: Wozu sollen sie befähigt werden? In der Reportage erfahren Sie mehr zu den Hintergründen der Befähigungsvision. Zur Reportage
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- Reportage
Befähigungsvision – Verwirklichungschancen und Möglichkeitsräume eröffnen