Akzeptanz aktiviert das Belohnungssystem im Gehirn
Reportage
Wenn ein Kind vernachlässigt wird, dann werden Stress-Gene aktiviert – ein Nährboden für Verhaltensprobleme, sagt der Hirnforscher Joachim Bauer.
Sie schlagen scheinbar grundlos zu, lassen ihre Fäuste sprechen, wenn doch Argumente gefragt wären und scheinen die ganze Zeit nur auf Krawall gebürstet zu sein, obwohl wir ihnen stets die Chance zum Dialog anbieten: Kinder und Jugendliche mit Verhaltensproblemen lassen uns häufig ratlos zurück. Was geht wohl in ihnen vor? Kann man Versäumnisse im Kindesalter in der Pubertät noch kompensieren? Und wo wäre der Ansatzpunkt? Um Kinder und Jugendliche mit Verhaltensproblemen besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick in deren Gehirn. Einer, der das häufig gemacht hat und in den letzten Jahren verschiedene Bestseller darüber verfasst hat, ist der Arzt, Hirnforscher und Psychotherapeut Joachim Bauer von Freiburg im Breisgau.
Es ist deshalb naheliegend, ihn bei seinem Besuch an der HfH direkt zu fragen: Herr Bauer, was können heilpädagogische Fachpersonen mit Kindern und Jugendlichen mit schweren Verhaltensproblemen konkret tun? «Entscheidend ist: Stellen Sie die Beziehung ins Zentrum, brechen Sie sie nicht ab», antwortet Bauer wie aus der Pistole geschossen und begründet: «Wenn Kinder und Jugendliche merken, dass sie gesehen, beachtet und akzeptiert werden, dann wird das Belohnungssystem im Gehirn aktiviert.» Es geht aber nicht nur darum, dass man sich einfach besser fühlt, wenn man beachtet und akzeptiert wird. Vielmehr baut die Entwicklung des eigenen Selbstbildes darauf auf. «Resonanz und Zuwendung anderer brauchen wir, um zu begreifen, wer wir sind», sagt Bauer. Auch das hat neurobiologische Grundlagen. Kinder kommen mit einem Stirnhirn zu Welt, das noch völlig unreif ist. Doch genau dort speichern sie später die Informationen und Überzeugungen über sich selbst ab. Deshalb ist die Resonanz der Umwelt vor allem in den ersten Lebensjahren zentral. Gerade in dieser Zeit braucht es verlässliche Bezugspersonen. Wird aber ein Kind vernachlässigt, erlebt keine Fürsorge und bekommt kaum Anregungen, dann werden Stress-Gene aktiviert. Die Folge: Das Kind hat das Gefühl, nicht gut genug zu sein und nicht gemocht zu werden. Ein Nährboden für Verhaltensprobleme, so Bauer, der betont: «Das Gehirn wird in hohem Masse sozial konstruiert.»
Die entscheidende Frage für heilpädagogische Fachpersonen lautet nun: Inwieweit ist es möglich, ein solch vernachlässigtes Kind auch später noch positiv zu beeinflussen? Ein Kind zum Beispiel, das bereits in der 6. Klasse ist oder einen Jugendlichen gar, der bereits die Oberstufe besucht? Die Befunde aus der Hirnforschung lassen hoffen: Weil das Gehirn plastisch ist, kann man man Versäumnisse aus der frühen Kindheit in der Schule ein Stück weit kompensieren.
Wir wollten mehr dazu wissen und haben Joachim Bauer zu einem 20-minütigen Gespräch gebeten, das wir Ihnen exklusiv zur Verfügung stellen. Erfahren Sie im Folgenden, wie stark die Gene unser Verhalten steuern, wie man mit Körpersprache auf Verhaltensprobleme reagieren kann – und welches Thema im Gehirn von Joachim Bauer ein regelrechtes Feuerwerk auslöst.
Informationen zum Video. Zu Beginn wird der Text «Untragbar - Know-How für die Schule, Interview mit Prof. Dr. med. Joachim Bauer» eingeblendet. Das Interview wird geführt von Dr. Dominik Gyseler (Wissenschaftskommunikation HfH). Der Gesprächsgast ist Prof. Dr. med. Joachim Bauer (Psychotherapeut und Buchautor, Berlin).
Video-Interview mit Prof. Dr. med. Joachim Bauer
Video-Abspann in Textform
Untragbar - Know-How für die Schule, Interview zur Tagung durchgeführt am 17.03.2018 an der HfH Zürich
- Referent und Gesprächsgast: Prof. Dr. med. Joachim Bauer (Neurowissenschaftler, Arzt und Psychotherapeut, Professor der Universität Freiburg im Breisgau, Gastprofessor IPU Berlin)
- Gesprächsleitung: Dr. Dominik Gyseler (Tagungsmoderation, Wissenschaftskommunikation HfH Zürich)
- Tagungsleitung und Moderation: Steff Aellig, Dominik Gyseler und Markus Sigrist
- Tagungskoordination: Martina Schulz
- Tagungssekretariat: Ereleta Mehmeti
- Video, Ton, Technik: Reto Schürch, Sandro Raveane, Lars Santschi und Roberto Di Gregorio
- Technik, Kamera, Schnitt: Beni Schafheitle, www.pixair.ch
- Konzeption und Regie: Steff Aellig und Dominik Gyseler
In diesem Beitrag geht es um die Frage, was die Neurowissenschaften für die Heilpädagogik leisten können. Schafft es wirklich einen Mehrwert, wenn man Kindern und Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf ins Gehirn schauen kann? Die kurze Antwort: ja. Abschliessend deshalb ein kleiner Exkurs zu diesem Thema. Im Einzelnen sind es drei Fragen aus der Heilpädagogik, zu denen neurowissenschaftliche Erkenntnisse etwas beitragen könne:
Was genau ist beeinträchtigt?
Ein Beispiel hierzu sind Menschen mit psychopathischen Zügen, das können bereits Kinder sein. Studien mit bildgebenden Verfahren zeigen, dass diese Gruppe verminderte Aktivitäten in der Insula zeigen, wenn man ihnen abstossende Bilder zeigt. Diese Hirnregion im limbischen System hängt unter anderem mit der antizipatorischen Furcht zusammen. Konkret: Die Betroffenen wissen zwar, dass sie bestraft werden, wenn sie Gewalt anwenden oder sonst das Gesetz brechen, aber sie empfinden nichts dabei. Mit Beobachtungen oder anderen Methoden alleine hätte man dieses Defizit nicht erforschen können.
Warum ist etwas beeinträchtigt?
Hier kann man das Beispiel der hochbegabten Minderleister anführen. Das sind Kinder und Jugendliche, die zwar einen IQ von 130 oder mehr haben, trotzdem aber schlechte schulische Leistungen erbringen. Bei dieser Gruppe zeigt sich das Phänomen der neuronalen Effizienz: Wenn sie etwas Neues lernen, ist ihr Stirnhirn nur über eine vergleichsweise kurze Zeitspanne aktiviert, schon nach wenigen Tagen verlagert sich die Hirnaktivität in Bereiche, die für das Abrufen zuständig sind. Das ist zwar effizient, raubt ihnen aber die Chance, sich selber beim Lernen zu beobachten. Die Folge: fehlende Lernstrategien und damit zusammenhängend langfristig schlechtere schulische Leistungen.
Inwieweit ist die Beeinträchtigung beeinflussbar?
Menschen mit Autismus haben Mühe, Gesichter zu lesen. Die Hirnforschung zeigt, dass dieses Defizit durch eine tiefgreifende Beeinträchtigung im Gehin verursacht wird. Sie zeigt aber auch, dass Teile des Stirnhirns hier kompensieren können. Bei Jugendlichen mit dem Asperger-Syndrom ist das gut erkennbar: Diese interessieren sich zwar aus eigenem Antrieb immer noch nicht für Gesichter und verfügen deshalb immer noch über deutlich weniger Training im Gesichterlesen als andere, haben aber gelernt, Emotionen auswendig zu lernen.